Proteste nach Festnahmen von kurdischen Bürgermeistern

Diyarbakir-Vorsitzende Gültan Kisanak und Firat Anli im Gewahrsam / Jelpke: »Türkische Regierung zeigt erneut ihr diktatorisches Gesicht«

neues deutschland 26.10.2016 Ausland

Berlin. Tausende Menschen haben am Mittwoch in verschiedenen türkischen Städten gegen die Festnahme der beiden Bürgermeister von Diyarbakir demonstriert. Die größten Proteste ereigneten sich in der kurdischen Metropole im Südosten des Landes sowie in Istanbul. Laut Bildern aus sozialen Netzwerken sollen sich verschiedene Abgeordnete der HDP und der DBP unter den Demonstranten befunden haben.

Die Polizei ging laut der Nachrichenagentur »AFP« mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Es soll auch zu mehreren Festnahmen gekommen sein. Die HDP veröffentlichte auf Twitter ein Foto, dass offenbar ein polizeiliches Vorgehen gegen die ehemalige Europaabgeordnete der Linkspartei und heutige HDP-Abgeordnete für den Raum Diyarbakir, Feleknas Uca, zeigt. Die Sicherheitskräften hätten sie demnach angegriffen.

Nutzer beschwerten sich auch über eine Einschränkung des Internetzugangs in Diyabakir. Der Zugriff auf das mobile Internet über die drei größten Anbieter in der Türkei sei nicht zugänglich, klagten Bewohner am Mittwoch. Die Einschränkung begann demnach kurz vor einer Demonstration aus Protest gegen die Festnahmen. Seit die türkische Regierung per Dekret auch zahlreiche pro-kurdische Medien geschlossen hat, nutzt die Opposition vermehrt mobile Applikationen wie Periscope, um Videos zu übertragen.

Festnahme von Gültan Kisanak und Firat Anli

Türkische Sicherheitskräfte nahmen Gültan Kisanak und Firat Anli am Dienstag in Gewahrsam. Im Umfeld des Rathauses waren dutzende Polizisten, gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer im Einsatz. Die Bürgermeisterin Kisanak wurde am Flughafen festgenommen, ihr Kollege Anli in seiner Wohnung. Sie üben gemeinsam das Bürgermeisteramt aus.

Den festgenommenen Stadtrepräsentanten soll fünf Tage lang der Kontakt zu ihren Anwälten untersagt werden. Einen entsprechenden Beschluss habe die Staatsanwaltschaft getroffen, meldete die Nachrichtenagentur DHA am Mittwoch. Die Anwälte von Gültan Kisanak und Firat Anli wollten Widerspruch einlegen. Nach den derzeit in der Türkei geltenden Notstandsdekreten kann auf Beschluss der Staatsanwaltschaft die ersten fünf Tage nach der Festnahme der Kontakt zum Anwalt verwehrt werden. Per Dekret wurde außerdem verfügt, dass Verdächtige erst nach 30 statt bislang vier Tagen in Polizeigewahrsam einem Haftrichter vorgeführt werden müssen. Menschenrechtler haben die Maßnahmen kritisiert.

Kritik aus Deutschland und der EU

Verschiedene deutsche Politiker kritisierten die Festnahmen, aber auch das Schweigen der deutschen Regierung diesbezüglich. Die LINKEN-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke erklärte, mit der Festnahme der beiden Bürgermeister habe die türkische Regierung erneut ihr »diktatorisches Gesicht« gezeigt. Mit solchen Maßnahmen, die eher »putschistischen Militärjuntas« als einem demokratisch gewählten Präsidenten zuzurechnen seien, werde der demokratische Wille der Bevölkerung von Diyarbakir mit Füßen getreten.

Sevim Dagdelen von der Linksfraktion warnte vor einer »Eskalation des Konfliktes« infolge der Festnahmen der Bürgermeister. Sie erinnerte auch daran, dass Menschenrechtsorganisationen mehrfach den Vorwurf der Folter von Inhaftierten in der Türkei erhoben hätten. Die Bundesregierung forderte sie auf, »ihre Premiumpartnerschaft« mit dem islamisch-konservativen Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, zu beenden und sich für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Auch der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, äußerte sich auf Twitter besorgt: »Das Letzte was die Türkei braucht, ist eine weitere Eskalation. Die Verhaftung der Bürgermeisterin von Diyarbakir ist kein gutes Zeichen.«

Die Europa-Abgeordnete der LINKEN, Martina Michels, äußerte sich ebenfalls kritisch zur Rolle der Europäischen Union: »Zu allem schweigt die EU und setzt ungerührt ihren Dialog mit türkischen Repräsentanten der Regierung, mit ihrem Premiumpartner fort, wenn es um die Absicherung der eigenen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen geht.« Merkel spiele darin eine »üble Rolle« und übersehe seit langem, dass »die Destabilisierung der türkischen Gesellschaft schon lange in Deutschland angekommen ist«.

Der Sprecher des Generelsekretärs des Europarates forderte auf Twitter eine Erklärung von der türkischen Regierung für die Festnahmen.

Türkei geht brutal gegen Oppositionelle, Linke und kurdische Politiker vor

Die Festnahmen seien im Zuge von Anti-Terror-Ermittlungen erfolgt, hieß es von den türkischen Behörden. Das autoritäre Regime in der Türkei geht mit dieser Begründung auch gegen Oppositionelle, Linke und kurdische Politiker vor. Diyarbakir wird immer wieder von Kämpfen zwischen türkischen Sicherheitskräften und Anhängern der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans erschüttert. Die PKK wird von der türkischen Regierung als Terrororganisation bezeichnet.

Die Regierung in Ankara hatte im September 28 gewählte Bürgermeister abgesetzt. 24 von ihnen wurden wegen angeblicher Kontakte zur PKK aus dem Amt entfernt, die vier übrigen wegen vermeintlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen wird von der Regierung in Ankara für den gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli verantwortlich gemacht. Der mehrheitlich kurdische Südosten der Türkei kommt seit dem Ende eines Waffenstillstands zwischen der PKK und der Armee im Juli 2015 nicht mehr zur Ruhe. Seither wurden zahlreiche kurdische Zivilisten, Guerilla-Kämpfer und türkische Sicherheitskräfte getötet.

seb/Agenturen