„Wenn Millionen zu Terroristen erklärt werden“

Martina Michels mit den Anwälten und Anwältinnen vor dem Verhandlungssaal | Foto: Konstanze Kriese

Martina Michels, stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Delegation EU-Türkei, reiste am gestrigen Mittwoch nach Ankara und nahm heute am Prozess gegen die Co-Vorsitzende der HDP, Figen Yüksekdağ, teil. Neben Michels waren weitere internationale Prozessbeobachter*innen unter anderem aus Frankreich und Schweden zugegen. Die Europaabgeordnete kommentiert die Anklage und das Verfahren:

„Den seit Anfang November 2016 verhafteten beiden Co-Vorsitzenden der HDP wird – wie so vielen anderen – von den türkischen Behörden Terrorpropaganda vorgeworfen. Der Prozess am heutigen Tag geht auf Interviews in deutschen Tageszeitungen zurück, in welchen sich Figen Yüksekdağ sachlich zur PKK äußerte und festhielt, dass die HDP kein verlängerter Arm der PKK ist, sie andererseits jedoch eine nicht zu leugnende Realität darstelle. Sie schätzte die HDP in diesem Zusammenhang ein ums andere Mal als Hoffnungsträgerin einer friedlichen Lösung der sogenannten Kurdenfrage ein.“

Die Co-Vorsitzende gilt als gewichtige Stimme der Frauenbewegung in der Türkei. Ihr wurde – im Unterschied zu allen anderen verfolgten und inhaftierten Abgeordneten – von einem Gericht inzwischen der Status einer gewählten Abgeordneten der Nationalversammlung aberkannt und ebenso ihre Mitgliedschaft in der HDP. Martina Michels kommentiert nach Gesprächen mit vielen ihrer Weggefährtinnen:

„Es ist besonders auffällig, dass mit dem rasanten Demokratieabbau in der Türkei durch Erdoğans Schritte auf dem Weg zu seinem Präsidialsystem verstärkt eine Strategie gegen politisch aktive Frauen durchgesetzt wird. Eine Regierung, deren Präsident sich offen gegen Gleichberechtigung von Frauen ausspricht, praktiziert hier in besonderer Weise einen Prozess des Unsichtbarmachens von Frauen im öffentlichen und politischen Leben. Dass dies gerade an der größten Oppositionspartei exekutiert wird, die zudem die einzige ist, die eine Co-Vorsitzendende hat, ist mehr als ein symbolischer Akt. Es ist eine Machtdemonstration gegen politisch engagierte Frauen, die sich für Freiheit und Selbstbestimmung einsetzen.“

Im Prozess äußerte sich die über Video zugeschaltete Co-Vorsitzende zur Illegitimität des Urteils über ihre Aufhebung des Parlamentsmandats und der Parteimitgliedschaft. So etwas ist weder in der türkischen Verfassung vorgesehen noch gab es vergleichbare Urteile in der türkischen Rechtsprechung. Sie hob zu Prozessbeginn hervor, dass sie als Repräsentantin der HDP von sechs Millionen Wählerinnen und Wählern für ihr politisches Mandat legitimiert wurde und daher bei einer solchen Rechtsprechung in den vorangegangenen Prozessen, wie auch in der heute stattgefundenen, nicht als Einzelperson stehe. Daher betonte sie, dass mit ihrer Anklage Millionen zu Terroristen erklärt würden.

Martina Michels erfuhr aus den Gesprächen am Rande des Prozesses, dass die Zerstörung zivilgesellschaftlicher Organisationen in besonderer Weise Frauenorganisationen und Initiativen galt, die sich gegen Gewalt an Frauen und für politische und sexuelle Selbstbestimmung einsetzten. „Bei den Ausübungsverboten im Zuge des Ausnahmezustandes traf es 56 Organisationen, die sich besonders für Gleichstellung und Frauenrechte einsetzten, wie mir Vertreterinnen der Frauenversammlung der HDP berichteten.“

Am heutigen Prozesstag wurden letztlich nur Interpretationen ihrer Interviewaussagen vorgetragen ohne dass bisher den Anwälten und der Angeklagten der Interviewtext zugesandt wurde. Nachdem die Anwälte diesen Sachverhalt einforderten, der zur Erarbeitung der Verteidigung die mindeste Voraussetzung darstellt, wurde die Verhandlung auf Juni vertagt.

Abschließend hielt Martina Michels fest: „Einerseits ist es schmerzhaft, der Absurdität eines unfairen Prozesses gegen die politische Opposition in der Türkei beizuwohnen. Andererseits ist die Teilnahme vieler Prozessbeobachterinnen und -Beobachter aus verschiedenen Ländern ein wichtiges Signal. Dies ist wenige Tage vor dem Referendum über das Präsidialsystem, dessen demokratische Legitimität innerhalb des Ausnahmezustandes sehr in Zweifel steht, ein Akt der Solidarität mit der verfolgten politischen und gesellschaftlichen Opposition. Andererseits ist die Prozessbegleitung auch ein Moment der Hoffnung auf eine demokratische Türkei, in der politische Grundrechte, Medienfreiheit und Selbstbestimmung von Frauen und Männern nicht unter den Entscheidungen und Folgen des Ausgangs des Referendums am kommenden Sonntag begraben werden.“