Martinas Woche 9 – 2018

Lesung: links Christine Rösinger, rechts: Klaus Lederer | Foto: Konstanze Kriese

Literatur und Flucht – Miniplenum – Polen – Brexit – Medien- und Hochschulpolitik – SPD – Wahl in Italien

sharepic zur EU-Förderpolitik

Martina Michels war zu Beginn der parlamentarische Woche in Berlin in der Bundestagsfraktion der Linken zu Gast bei der Arbeitsgruppe Europa, die sich einen Arbeitsplan gab, der mit der heutigen Entscheidung der SPD, in die Bundesregierung einzusteigen, sicherlich noch klarere Konturen bekommt, egal wie Willi Brandt dies gefunden hätte (ACHTUNG Satire). In Brüssel tagte das Parlamentsplenum und entschied ein Novum, ein Vertragsverletzungsverfahren gegenüber Polen zu unterstützen. Theresa May ist langsam bei den Folgen des Brexit angekommen, Italien wählt. Freitags trafen sich die medienpolitischen Sprecherinnen und Sprecher in Berlin. Dort ging es einmal mehr um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und um die Lage der Beschäftigten in den Medien.

Literatur und Flucht

Dienstag Abend war es eiskalt, auch in Brüssel. Die Busfahrer*innen nutzten ihr Streikrecht und auf abenteuerlichen Wegen bewegten sich trotzdem allerhand Neugierige in die Berliner Landesvertretung. Das Büro Michels reiste, ob der besonderen Verkehrslage sogar mit einem ICE an, der zum Glück einmal am Place Luxembourg neben dem Parlament und einmal in der Nähe der Landesvertretung hielt. Der Aufwand hatte sich gelohnt. Wir lernten den Spezialisten für deutschsprachige Bücher in Belgien kennen, den mobilen Teil der Gutenberg-Buchhandlung aus der Rue d’Argile und warteten auf eine Legende der Lassie Singers, auf Christiane Rösinger. Sie las aus ihrem neuen Buch „Zukunft machen wir später: Meine Deutschstunden mit Geflüchteten.“ vom S. Fischer-Verlag. Liebevoll, pragmatisch und nicht ohne die existentialistischen Beigaben einer immer prekär lebenden Musikerin, Autorin, Feministin, beschreibt die Autorin die selbstorganisierten Sprachangebote, die seit 2015 von vielen Menschen auf die Beine gestellt wurden. Was der Staat an Integration verweigerte oder nicht bewältigte, wurde in die eigenen Hände genommen. Irgendwie sind diese Kurse beinahe so etwas wie die „Tafeln der Sprache“. Andererseits kann hier niemand auf die grausige Idee kommen, jemanden wegen seiner Herkunft auszuschießen. Es geht letztlich gerade darum, Ankunft für Menschen auf der Flucht oder bei der Suche nach einer besseren Welt zu organisieren. Rösinger schaut mit Distanz, Strenge und Klarheit auf diese besonderen Sprachklassen, auf den schwer berührbaren Kosmos der Fluchterfahrungen, auf die „Neulehrer“, auf den deutlichen Respekt und die Freundlichkeit der Schüler*innen, die so viel Lebenserfahrungen mit sich herumtragen, die zwischen dem ersten Alltagsvokabular von den Wochentagen bis zur Regionalküche, letztlich trotzdem unausgesprochen bleiben. Nach der Lesung entspann sich, gemeinsam mit dem Kultur- und Europasenator Berlins, Klaus Lederer, ein Gespräch, das nicht die üblichen Floskel von politischer Verantwortung präsentierte, sondern die aus der Lesung gewonnene Perspektive auf Begegnungen unter Menschen, von denen die einen in Not sind, die anderen auf ganz unterschiedliche Weise die Ankunft mit gestalten können, nicht mehr verließ.

Einleitung eines Rechtsstaatsverletzungsverfahrens gegen Polen nach Artikel 7 EUV

Es ist ein Novum. Am 1. März entschied das Europäische Parlament den Vorschlag zu unterstützen, dass die Regierungen prüfen sollen, ob die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Werte durch Polen besteht. Dies ist ein sogenanntes §7-Vetragsverletzungsverfahren, das ebenso Ungarn drohen könnte. Es geht neben der gesetzlich verankerten Aufhebung der Unabhängigkeit von Verfassungsgericht und Medien allerdings noch um einen weiteren Streit, der die Debatten im Europäischen Rat seit mindestens zwei Jahren vergiftet und mit immer schrilleren Tönen von allen Seiten geführt wird.

Ja, es ist unerträglich, dass Länder wie Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Es ist genauso absurd, dass Merkel mit Entzug von Zuwendungen, z. B. aus der Struktur- und Förderpolitik droht. Das trifft am Ende nicht die Regierungen, sondern möglicherweise noch Flüchtlings- und Integrationsprojekte, Medieninitiativen und die regionale Wirtschaft oder Jugendprojekte, die diese Länder dringend brauchen. Gerade Deutschland, dass sich bis 2015 genüsslich auf den Dublin-Regelungen ausgeruht hat (darauf verwies gleichfalls Senator Lederer bei der Lesung), die dann vor allem Italien und Griechenland betrafen, weil dort viele Flüchtlinge zuerst ein EU-Land betreten hatten, sollte jetzt nicht mit dem Finger auf Osteuropa zeigen. Dies bringt eine notwendige Lösung für eine humane Flüchtlingspolitik ohne Türkeideal und Support der libyschen Küstenwache keinen ernsthaften Schritt voran. Die Probleme liegen auf mehr Ebenen als auf den Herausforderungen einer Verteilung, die auch nach den Bedürfnissen der Schutzsuchenden gemeinsam gestaltet werden müssen. Europa produziert gleichfalls Flucht, ob durch Waffenexporte, Entwicklungspolitik oder Protektion der eigenen Märkte.

Man kann Problemlagen innerhalb der EU noch einmal ganz anders darstellen, um ganz schnell zu erfassen, dass Kürzungsorgien nach vermeintlicher politischer Anpassungsfähigkeit oder makroökonomischer Kriterien, wie der geltenden Sparpolitik, verheerend sind. Schon jetzt gibt es Anlass genug, solidarische Elemente, wie sie in der Regional- und Strukturpolitik zu finden sind, eher auszuweiten als deren Mittel zu senken und womöglich der neuen Verteidigungspolitik zufließen zu lassen. Eurostat beweist: Es gibt erhebliche wirtschaftliche Entwicklungsunterschiede zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten. Auch in Ost- und Westdeutschland sowie unter anderen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden gibt es Regionen, die unter oder nur knapp über dem Durchschnitt liegen. Mit dem Brexit würden sie statistisch reicher, real natürlich nicht. Genaue Daten hier

Berlin: Treffen der linken medienpolitischen Sprecherinnen und Sprecher

Medienpolitische SprecherInnenrunde in Berlin | Foto: FB-Profil von Imke Elliesen-Kliefoth

Aus Landtagen, der Bundestagsfraktion und dem EU-Parlament waren sie angereist, die medienpolitischen Sprecherinnen und Sprecher, die sich bei der neuen medienpolitischen Sprecherin der linken Bundestagsfraktion, Doris Achelwilm, MdB, trafen. Neben den Berichten aus den Ländern, die allesamt mit Novellen der Rundfunkstaatsverträge zu tun haben, sprach Heiko Hilker vom Dresdner Medieninstitut zum Bericht der KEF. Mit den Beiträgen und dem Reformbedarf der öffentlich-rechtlichen Medien standen auch die europaweiten Debatten, die durch die Schweizer Volksabstimmung gegen TV-Gebühren noch einmal deutlich an Fahrt aufgenommen haben, im Mittelpunkt der Debatten. Andererseits ging es um die Arbeit- und Lebensbedingungen der sogenannten Festen-Freien und der freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Rundfunkanstalten, die in einer Studie befragt wurden, die demnächst fertiggestellt wird.

Leichter Realitätsgewinn: May sprach am Freitag zu den Folgen des Brexit

Theresa May sagte am Freitag in London erstmalig deutlich: „Wir alle müssen einige harte Fakten akzeptieren … Wir verlassen den Binnenmarkt, das Leben wird anders sein. Der Zugang zu den Märkten auf beiden Seiten wird geringer sein als bisher“. Doch entscheidend in der Debatte sind die Menschenrechte, die Folgen für EU-Bürgerinnen und Bürger im Vereinten Königreich und für Britinnen und Briten in der EU. Gabi Zimmer, unsere Fraktionsvorsitzende, kritisierte daher nach der Rede, dass trotz des gewachsenen Realitätssinnes keine greifbaren Vorschläge auf dem Tisch liegen, der politische Gestaltungswille dieses Austrittes aus der EU unkonkret und daher in mehrfacher Hinsicht sehr problematisch bleibt, denkt man allein an die Wahrung der Vereinbarungen des Karfreitagsabkommens mit Nordirland. “We do have still major concerns regarding the border in Ireland and on citizens‘ rights. The proposed withdrawal agreement seeks to avoid physical infrastructure on the border in Ireland. But the proposal restricts the open border regime to goods. If services are excluded from the agreement then there is a potential for serious economic damage to the border region.“ , so Gabi Zimmer in ihrem Pressestatement. („Wir haben immer noch große Bedenken hinsichtlich der Grenze zu Irland und bezogen auf die Bürgerrechte. Mit der vorgeschlagenen Austrittsvereinbarung soll eine feste Grenze zu Irland vermieden werden. Der Vorschlag beschränkt sich jedoch auf ein offenes Grenzregime der Waren. Wenn Dienstleistungen aus dem Abkommen ausgeschlossen werden, könnte die Grenzregion ernsthafte wirtschaftliche Schäden produzieren.“)

SPD Mitglieder entscheiden sich mit zwei Dritteln für die Dritte Große Koalition

Vermutlich wird nun die Regierungsbildung zügig eingeleitet, die Kanzlerin gewählt und das Parlament nimmt seine reguläre Arbeit auf. Das 177seitige Koalitionsvertragswerk liegt auf dem Tisch, enthält im ersten Kapitel ein Lob auf Europa, was aber im Detail ein abenteuerliches „Weiter So“ ist, als ob es keinen Brexit, keinen erstarkenden Rechtspopulismus und keine Europawahl 2019 gäbe. Stattdessen steht in den Fachkapiteln des Koalitionsvertrages, nicht im eigentlichen Europakapitel, dass man sich für eine Europäische Armee einsetzen wird. Andererseits bleibt man ein Umsteuern zu einer humanen Flüchtlingspolitik schuldig, bekennt sich nicht ernsthaft zu einer Struktur- und Förderpolitik in angemessener finanzieller Ausstattung und legt viel Halbgares bei Digitalem und Sozialem fest. Am schwammigsten bleiben politische Ideen, das politische Europa deutlich demokratischer zu machen, denn dies dürfte dem „deutschen Europa“, das sich noch immer im Europäischen Rat zu verhalten weiß, möglicherweise auf den Leib rücken. Zu 100 Tage Schonfrist hat man bei den dünnen Ankündigungen keine Lust und letztlich auch keine Zeit, denn schon droht ein deutscher EZB-Chef, dessen Geldpolitik nicht nach mehr Beschäftigung und besseren Lebensbedingungen ruft. Wir werden also ganz unverdrossen unsere Kritik an Vorhaben der Großen Koalition schärfen und natürlich auch im Zuge der Europawahlen eigene Vorschläge auf den Tisch legen, wie Europa friedlicher, weltoffener, sozialer und demokratischer werden kann und nicht zuletzt beim Klimaschutz und einem gerechtem Welthandel endlich nach vorne geht.

Italien wählt

„Clowns an die Macht“, titelt der Spiegel vor 3 Tagen, doch die Lage ist ernst, nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa. Können Forza Italia und die Lega mit der Fratelli d’Italia zusammen gehen, dann wird es ein weiteres mal düster im europäischen politischen Himmel. An dieser Stelle werden die Wahlergebnisse kommentiert, wenn der Wahltag der Pannen in die Hochrechnungen übergeht.

Der TIPP für die kommenden Woche: Livestream zur Hochschulpolitik am 8. März 14:00 – 18:30

Foto: GUENGL, PRESS UNIT

Aus Deutschland werden  in Brüssel zu Gast sein: Isabelle Vandre, Hochschulpolitische Sprecherin der Linksfraktion aus Brandenburg und das Vorstandsmitglied Nathalie Schäfer vom fzs. Hier sind alle weiteren Hinweise für den Livestream und das Programm zu finden.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.