Martinas Woche 37 – 2018

Baustelle vorm Europaparlament Foto | Konstanze Kriese

Strasbourg mit Europe’s Future & Alexis Tsipras, State of the Union & Jean Claude Juncker, Copyright, Israel und Besuch aus Sachsen-Anhalt…

Montag morgen ging es nach Strasbourg zum ersten Plenum des Europarlaments nach der Sommerpause. Es sollte eine Wiederbegegnung mit Alexis Tsipras und eine Schlussvorstellung von Jean Claude Juncker werden, zumindest im Format der Debatte zur „Lage der EU“ (State of the Union). Für Martina war mindestens genauso aufregend, dass die ewig verschobene und dann noch einmal im Detail zurückgeholte Entscheidung über wesentliche Teile der Copyrightreformen im Rahmen der Digitalen Binnenmarktstrategie (DSM)auf der Tagesordnung stand. Heraus kam tatsächlich ein drohendes Ende des Internets in Europa, wie wir es kannten, eine herbe Enttäuschung. Außerdem wurde abgestimmt, dass die Datenschutzgrundverordnung  nun auch für europäische Behörden gilt. Immerhin. Martina hatte Gäste aus Sachen-Anhalt. Am Wetter lag es bestimmt nicht, aber es bliebt keine Zeit, auch nur annähernd die ersten Schritte zu einer Weinkönigin zunehmen, denn die nächste Reise will gut vorbereitet sein.

Generaldebatte in Strasbourg: State of the Union

Martina Michels und Gabi Zimmer beim Pressebriefing, 11.9.2018 | Foto: Konstanze Kriese

Gabi Zimmer antwortete auf Junckers Lageeinschätzung„Die heutige Politik bringt uns einem Europa der Solidarität und des Friedens nicht näher. In vielen Ländern ist das Wohlstandsniveau vor der Krise noch nicht wieder erreicht, Wachstum kommt bei vielen Menschen nicht an…“ Aufrüstung und Abschottung sind hingegen die, mit Riesenschritten und praktischen Haushaltsuntersetzungen verfolgte Strategie innerhalb der EU. Sabine Lösing kritisiert daher zurecht die Abstimmung des Plenums zu automatischen Waffensystemen. Dahinter verblassen letztlich Junckers warme Worte. Sie zerschellen an den uneingelösten Herausforderungen, die hinter der weltweiten Migration derzeit stehen, vor allem Kriege und die Ausbeutung des Südens. Gabi Zimmer verwies auf den totgeschwiegenen Dissens zwischen den Institutionen. Bald jährt sich ein Reformangebot des Parlaments zur Asyl- und Migrationspolitik, doch der Rat schiebt die Beschäftigung mit diesen Vorschlägen von Regierungs- zu -gipfel immer wieder auf: „Militärische Stärke nach außen vorzuspielen und Grenzen abzuschotten, wird die europäischen Bürger nicht besser schützen. So wird nur die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer weitergehen. Parlament und Kommission müssen gemeinsam von den Regierungschefs im Europäischen Rat die Reform des Dublin-Systems einfordern. Das EP hat schon vor Monaten eine klare Position zu Dublin vorgelegt.“, erinnerte Gabi Zimmer.

10 Jahre Finanzkrise und die Auseinandersetzung zur Zukunft der EU mit Alexis Tsipras

Rückblicke zum „10 Jahrestag“ der Lehman-Brother-Pleite und der anschließenden weltweiten Finanzkrise, die auch die EU massiv erfasste, gab es in dieser Woche an verschiedenen Orten. Der OXI-Blog berichtet von einer Fachtagung der linken Bundestagsfraktion, welche für Deutschland allein anführt, dass die Bankenrettung bis heute 30 Mrd. Euro verschlungen hat. Das Krisenmanagement führte zu einem weiteren stillen Umbau in den europäischen Institutionen, bekannt geworden unter dem nach Michael Foucault geprägten komplizierten Namen GouvernementalisierungFoucault schreibt„Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“ Kurz und erlebt, wir müssen jetzt viel Geld in die Hand nehmen, die Banken retten, sonst geht alles aus den Fugen, sie sind systemrelevant usw. Wir erinnern uns…unsere Mitsprache blieb jedenfalls völlig auf der Strecke. Diese Methode wurde dann auch gleich für gänzlich andere Politiken eingesetzt. Zum Beispiel ist der EU-Türkei-Deal nicht weiter als eine Mitteilung des Europäischen Rates, eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten, womit das Parlament von einer Mitentscheidung einfach ausgeschlossen wurde. Demokratieförderlich ist das nicht, wie wir wissen und damit auch Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten, die die Demokratiekrise der EU für ihre nationalistische Propaganda nutzen.

Eine der konkreten Konsequenzen der Finanzkrise war der Umgang mit der linken Regierung im verschuldeten Griechenland seit 2015, bei dem nichtlegitimierte Gremien, wie die Eurogruppe, der IWF und die Kommission „Rettungspakete“ schnürten, die den Griechinnen und Griechen eher die Luft zum Atmen nahmen. Privatisierung und Sozialabbau wurden zur Radikalkur erklärt. Die Gewinner sind wieder Banken und große Unternehmen. Und trotzdem war es nicht egal, wer in Griechenland regierte, wie Tsipras im Plenum – und in Interviews – erläuterte. Gabi Zimmer verstärkte seine Kritik, indem sie festhielt: „Ja, das dritte Memorandum ist vor wenigen Tagen zu Ende gegangen. Das ist sein großer Erfolg, aber – und hier widerspreche ich ausdrücklich Herrn González Pons – es ist eben kein Akt der Solidarität gewesen, sondern es ist eine ungeheure Last gewesen, die den Menschen in Griechenland auferlegt worden ist. Und es kann nicht als das Musterbeispiel dafür gelten, wie künftig mit Krisen in der Europäischen Union umgegangen wird. Das muss klar gesagt werden. Das, was hier geschehen ist, war eine humanitäre Katastrophe, und die haben die Institutionen und insbesondere auch die Rechten mit verursacht, weil sie nämlich meinten, eine linke Regierung in die Schranken weisen zu müssen und sagen zu müssen: Alternativen dürfen gar nicht erst gedacht werden. Das ist ihr Herangehen gewesen!“ Damit war ein Boden für Zukunftsdebatten bereitet, den wir mit den Wahlkämpfen 2019 als politische Linke endlich in jedem Mitgliedsland bestellen müssen.

Europaparlament gedenkt der Opfer von Waldbränden in Griechenland

und nicht nur dort. Kommissionspräsident Juncker hatte in seiner Rede zur Lage der Union über die verheerenden Waldbrände in Griechenland, Schweden und Lettland im Sommer 2018 gesprochen und auf die Hilfe verwiesen, die über das Katastrophenschutzverfahren der Union von mehreren Mitgliedstaaten geleistet wird. Am Donnerstag wurde dazu eine Resolution verabschiedet, die den Wiederaufbau und die Vorbeugemassnahmen ins Visier nimmt.

Urheberrechtsreform: Chance verpasst – Freiheit im Netz beschnitten

Wikimedia macht mobil für „SaveYourInternet“- auch nach der Abstimmung | Foto: Konstanze Kriese

Für die konkrete Arbeit von Martina war der Mittwoch, gleich nach der State of the Union-Debatte, ein wichtiger Tag. Die ewig verschobene und dann noch einmal bis in jedes Detail zurückgeholte Debatte um die Copyrightreform wurde am Dienstag noch einmal geführt und letztlich die Position des Parlaments am Mittwoch abgestimmt. Mit diesem Votum gehen die Parlamentsvertreterinnen und -vertreter in den Trilog mit dem Europäischen Rat und der Kommission und werden dann im Frühjahr ein endgültiges abstimmungsfähiges Ergebnis vorlegen.

Wie haben die Abgeordneten aus Deutschland bei der Copyrightreform abgestimmt… | ABSTIMMUNGSGRAFIK: MARTIN SONNEBORN, MDEP

Es ging in den Überarbeitungen der weiterhin gültigen Copyrightrichtlinie von 2001 u. a. einmal um die konkrete Ausgestaltung der Ausnahmen vom Urheberrecht für Wissenschaft, Bildung und Kulturerbe, um bessere Bezahlung von Kreativen und – dies völlig überflüssig -, um ein europäisches Leistungsschutzrecht für Presseverleger und um verpflichtende upload-Filter, die Sharing-Plattformen zur Erkennung von urheberrechtlich geschützten Inhalten einsetzen sollen. Das Plenum entschied sich für das Leistungsschutzrecht und für die upload-Filter und der Spiegel titelte später in einem Kommentar von Patrick Beuth zurecht: „EU-Parlament stimmt für Feenstaub“. Da die Materie sperrig und komplex ist, hat Martina in ihrer, die Abstimmung kommentierenden Pressemitteilung nochmal ein Positionspapier zu den beiden extrem strittigen Punkten eingebunden. Diese Argumentation war im Juli vor der Abstimmung entstanden und von den meisten der GUENGL-Fraktion, der linken Fraktion im Parlament mitgetragen worden. Am Mittwoch lautete das finale Fazit„Beide Vorschläge sind ungeeignet, die Krise der Printmedien aufzuhalten, besseren Journalismus zu befördern und Kreative im Netz fair zu bezahlen. Nirgends haben das Leistungsschutzrecht für Presseverleger (LSR) oder Upload-Filter die Lage der eigentlichen Urheberinnen und Urheber verbessert. Im Gegenteil hat es den Verlegern sogar geschadet und ist ein Desaster für Nutzerinnen und Nutzer. Es geht nicht darum, dass alles kostenlos ist, wie es gern unterstellt wird. Doch zur freien Netzstruktur gehören Referenzen, Ausschnitte, Zitate und zum freien Kommunizieren gehören auch Parodien und Remixe. Upload-Filter können dies jedoch nachweislich nicht vom Original unterscheiden. Sie blocken legitime Meinungen bei denen jeder Streitbeilegungsmechanismus zu spät kommt.“ 

EU-Parlament stimmt für das Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn

Für Manfred Weber, den Chef der konservativen Fraktion im Europaparlameent, wurde die Abstimmung zu einem Test, wie ernst er seine publik gewordene Kandidatur als Kommissionspräsident meint. Sehr ernst, möchte man meinen, denn entgegen seiner CSU-Mitstreiter, stimmte er – mit der Mehrheit des Parlaments für das Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn und dies, obwohl Orbans Partei Mitglied seiner Fraktion und der Europäischen Volkspartei, gemeinsam auch mit der CDU, ist. Wenn der Weg auch sehr beschwerlich ist, könnte am Ende eines solchen Verfahrens ein Stimmentzug im Europäischen Rat stehen. Das wäre allemal besser, als mit der Kürzung von EU-Förderungen zu drohen, denn das trifft oft vor Ort die Falschen. Unsere Sprecherin der Delegation, Conny Ernst, kommentiert die Aussprache.

Besuchergruppe aus Sachsen-Anhalt in Strasbourg

Besuchergruppe aus Sachsen-Anhalt in Strasbourg | Foto: Konstanze Kriese

So anstrengend die Anreise für Besucherinnen und Besucher auch immer ist, so ist der Besuch im Parlament und in der Elsässischen Metropole ein beeindruckendes Erlebnis. Ulrich Lamberz schrieb diesmal unser Reisetagebuch. Am Nachmittag nach der enttäuschenden Copyright-Abstimmung kam Martina dann zu den Besucherinnen und Besuchern, um zu erläutern, wie eine Abgeordnete arbeitet und um Fragen zu beantworten. Sowas erdet nach einem anstrengen Wochenauftakt allemal, schärft grundlegende Kritiken an der EU, aber zeigt zugleich ganz praktische politische Möglichkeiten, um real etwas zu ändern, seien es zum Beispiel rund um die „verlorene“ Copyrightabstimmung entstandene neue Netzwerke, eine Zusammenarbeit zwischen Wikimedia, dem europäischen Bibliotheksverband und vielen mehr, sowie das Wirken in EU geförderten Projekten, ob für Medienfreiheit oder Integration, für Europaschulen, den Kulturaustausch oder den Breitbandausbau.

Europaparlament protestiert gegen drohenden Abriss von Khan al-Ahmar und anderen Beduinendörfern

Nachdem am 5. September 2018 das Oberste Gericht Israels der israelischen Regierung grünes Licht für die Zerstörung des Beduinendorfes Khan al-Ahmar gegeben hatte, beraumte das Europaparlament für die aktuelle Plenartagung eine Sonderdebatte an und verabschiedet eine Resolution gegen den Abriss des Dorfes, die Vertreibung der Bevölkerung und die Zerstörung von Infrastruktur einschließlich der mit Unterstützung von EU-Mitteln gebauten Grundschule.

Verhinderte Weinkönigin: Martina Michels, September 2018 | Foto: Konstanze Kriese

Die Woche in Strasbourg lies kaum Zeit zum Nachdenken, Ausklingen oder gar für Möglichkeiten, zu denen Strasbourg im Herbst förmlich einlädt, zu einer Weinverkostung oder einer Wanderungen in den Vogesen. Nichts dergleichen ist uns bisher in dieser Legislaturperiode gelungen einzuplanen, indem man einfach mal auch am Wochenende bleibt. Auch dieses Mal heißt es für Martina: Koffer schnappen, auspacken, waschen, einpacken, denn in der kommenden Woche reist sie zu mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Regionalausschuss nach La Réunion, beinahe ans andere Ende der Welt, nach Saint Denis, zu den EU-Gebieten in extremer Randlage, wie sie formal oft genannt werden. Wir sind schon ganz neugierig, was Martina dort erleben wird und werden dies in der kommenden Woche exklusiv berichten.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.