Wir müssen die Chance ergreifen

Manolis Glezos wird nicht nur zu Hause in Griechenland als Volksheld verehrt. Das zeigte sich am späten Dienstagabend in Berlin bei einer Veranstaltung der LINKEN im Europaparlament.

Eigentlich ist es ihm ein bisschen peinlich. Nicht etwa sein Leben. Aber der Rummel um ihn. Man solle nicht dauernd nur über ihn reden, wird er im Münzenbergsaal des nd-Gebäudes am Berliner Franz-Mehring-Platz nicht nur einmal sagen. Und das ist sichtbar keine Floskel. Für die hat Manolis Glezos sowieso generell nichts übrig. Das hat der 92-Jährige auch schon im Europaparlament deutlich gemacht, als eine Debatte um die Geschäftsordnung die Parlamentarier beschäftigt. »Wir sind hier, um das Leben der Menschen zu verändern und beschäftigen uns nur mit solchen Spielchen«, hat der Mann von SYRIZA geschimpft. »Und da war Ruhe im Saal«, erinnert sich Linksparteipolitikerin Martina Michels. Die Fraktionschefin der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europaparlament, Gabi Zimmer, spricht von dem großen Respekt, den der älteste EU-Abgeordnete auch unter den 19 Delegationen in der linken Fraktion genießt.

Das alles ist Manolis Glezos freilich fünf Tage vor der Wahl in seinem Heimatland nur von marginaler Wichtigkeit. Beschwörend fast spricht er von der Möglichkeit, dass am Sonntag »die Vision unserer Kämpfe Wirklichkeit« wird. »Diese Chance müssen wir ergreifen, denn ich weiß nicht, ob wir sie noch einmal haben«, sagt er. Und wie er in Brüssel nach Beobachtung seiner deutschen Fraktionskolleginnen niemals ohne konkreten Vorschlag bleibt, belässt er es auch in Berlin nicht nur bei der Einschätzung der Situation. An die vielen Griechen im Saal richtet er sehr direkt die konkrete Forderung, sich schnellstens auf den Weg nach Hause zu machen, um dort mitzuwählen. »Ich weiß, dass das für Euch sehr teuer ist, aber Ihr müsst fahren. Die Geschichte klopft an die Tür und wir müssen zur Wahl gehen, sonst kann sie sich nicht öffnen.« Der dringende Appell an die im Ausland lebenden Griechen ist nötig, obwohl die Umfragezahlen derzeit für SYRIZA positiv sind. Gabi Zimmer wird später zu Protokoll geben, dass in Griechenland etwa 100 000 junge Menschen nicht wählen dürfen, weil die Wählerlisten nicht aktualisiert worden seien. »Auch das ist Ausdruck eines nicht mehr funktionierenden Staatssystems«, weiß sie.

Andere Beispiele vom durch die Politik der Troika zerrütteten Gemeinwesen in Griechenland hatte zuvor schon Landolf Scherzer mit einer Lesung aus seinem neuesten Buch »Stürzt die Götter vom Olymp« geliefert. Wichtigstes Ergebnis der Reise des Suhler Schriftstellers allerdings ist die Erkenntnis der allgegenwärtigen Solidarität in dem gebeutelten Land. Ein alter Mann, der in Mülltonnen nach Essbarem sucht und von jungen Leuten mit Brot und Getränken aus einer Diskothek versorgt wird. Die Ärzte, die in eigens aus dem Boden gestampften Gesundheitszentren nichtversicherte Patienten versorgen. Ein einfacher Bankmitarbeiter, der sich regelmäßig dort in der Verwaltung nützlich macht, weil er seine Branche in großer Schuld gegenüber den Mitbürgern sieht. Menschen aus den Städten, die auf dem Lande Hilfe erhalten. »Diese große Solidarität, die ich in Griechenland wiedergefunden habe – ich weiß nicht, ob das in Deutschland möglich wäre«, so Scherzer bewegt.

Solidarität ist schon wieder so ein Stichwort für Glezos, den kleinen Mann mit der weißen Mähne. »Alle reden von der Solidarität mit den Griechen, aber es geht doch um sehr viel mehr. Was bei uns geschieht, betrifft doch alle«, hat er den Genossen seiner Fraktion nach einer Diskussion seine Unzufriedenheit beschieden. Spricht jetzt von dem Europa der Völker, dass kein Europa der NATO sei – »und Entschuldigung, kein Europa von Frau Merkel«, sagt er und erntet in Berlin heftigen Beifall. Sagt auch, dass Europa ihm gehöre und er es niemandem zu schenken gedenke. »Wir können ein Europa bauen, das Frieden und Kultur beinhaltet.« Die Herrschenden hätten bemerkt, dass in Griechenland womöglich am Sonntag etwas Neues geboren wird – und würden deshalb die Ängste gegen SYRIZA schüren, erklärt der kleine große Mann der griechischen Linken.

Ihn, der sich in das kollektive Gedächtnis der Griechen schon als 18-Jähriger einschrieb, als er die Fahne der Nazis von der Akropolis holte, später Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte und mehrmals zum Tode verurteilt worden war, treiben auch angesichts eines möglichen Wahlerfolges der Linken viele Fragen um. Was ist, wenn wir am Sonntag nicht die erste Partei werden? Was, wenn die Süße der Macht wie schon in vielen anderen Ländern doch wieder zu einer großen Verführung wird? Wie bringen wir nicht nur die Partei, sondern wirklich das Volk an die Macht? Und welche Veränderungen der Institutionen sind nötig, um die neuen, großen Herausforderungen zu meistern?

Nein, Glezos hat zu viel erlebt, um sich einfach nur über die wachsende Akzeptanz seiner Partei unter der Bevölkerung zu freuen. Da ist der Bruder, den die Nazis mit 19 Jahren hingerichtet haben – und der ihn regelmäßig jeden Abend besucht und fragt, was er so gemacht habe an diesem Tag. Er beschreibe ihm dann in aller Ausführlichkeit die vielen Sitzungen und die vollen Aschenbecher, erklärt Glezos mit wenig freudvollem Lächeln – um gleich danach ernst zu werden, weil er sich danach mit schöner Regelmäßigkeit die Frage des Bruders gefallen lassen muss, warum so viel geredet und so wenig verwirklicht werde. »Geduld, Bruder«, sage er dann immer wieder bei diesen inneren Zwiegesprächen. Und zu spüren wie zu verstehen ist, dass die Ungeduld eines 92-Jährigen nicht etwa geringer wird, »endlich die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen«. Aber es ist eben nicht nur diese Aussicht, die Glezos immer wieder neue Kräfte wachsen lässt. Es ist auch die Tatsache, dass er sich in der Bringeschuld »all jener Genossen sieht, die ich verloren habe«.

Es ist ein Abend im Wechselbad der Gefühle. Mal ringt man im Saal mit den Tränen, mal wird laut gelacht. Etwa, wenn Glezos über Goethe philosophiert, den Geologen, der auch Dichter war. Oder sich amüsiert, wie manche engstirnigen Linken einen Marxisten am genauen Wortlaut eines Marx-Zitates messen – und Meinungsunterschiede oft nicht als Bereicherung empfunden werden. Oder sich über die hölzerne Sprache unter den Seinen lustig macht. Als er und einige andere einmal als inhaftierte Kommunisten mit Handschellen auf einem Boot von einer griechischen Insel zur anderen verbracht wurde – was eigentlich aus Sicherheitsgründen auf Schiffen nicht üblich ist -, wollten ein paar Landwirte wissen, wer sie denn seien. Und da hat doch ein Genosse die Neugierigen tatsächlich über Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse aufklären wollen. Mit dem Ergebnis, dass sie alle für Zeugen Jehovas gehalten wurden. »Wir müssen uns mehr bemühen, verstanden zu werden«, ist sich Glezos sicher. Aber auch das kann er den Jüngeren ja noch vormachen. Wenn er alt ist, sagt er schmunzelnd, will er nämlich Bücher schreiben. Von Gabriele Oertel

Neues Deutschland 23.01.2015