„Wer soll sich das noch anhören?“

Ankommende Flüchtlinge in Wien - Westbahnhof | Foto: Konstanze Kriese

Der Rat und die Kommission in der Aussprache mit dem Europäischen Parlament zur Flüchtlingspolitik

„Wer soll sich das noch anhören?“, intervenierte entnervt der Sozialdemokrat Fleckenstein nach zweieinhalb Stunden bei einem zu 10 % gefüllten Plenarsaal. Eine andere Abgeordnete erinnerte, dass heute der Tag des Murmeltiers ist und fand, dass die bekannte Debatte um ausbleibende Europäische Lösungen in der Flüchtlingspolitik dies leider illustriert.

Die fünf Stunden andauernde Aussprache begann mit Vertröstungen der niederländischen Ratspräsidentschaft, denen ein zaghaftes Selbstlob der Kommission hinterhergeschickt wurde, dass man doch tätig sei und auch schonungslos den Finger in die Wunde legen wird. Der Niederländer Bert Koenders, der für den Rat der Europäischen Union die Aussprache eröffnete, nannte eingangs zwei Zahlen: Nur 4 der einzurichtenden Hotspots für die Registrierung Asylsuchender an den EU-Außengrenzen funktionieren und 400 Personen wurden bisher umverteilt, obwohl sich die Mitgliedstaaten auf 160.000 Menschen geeinigt hatten. Diese Einigung als höchstes Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten war schon im Herbst nicht mehr als ein Sinnbild, dass die EU der Lage nicht gewachsen ist. Allein in Deutschland wurden eine Million Asylsuchende erwartet. Der Spätsommer hatte nicht nur die Bilder im Wiener Westbahnhof und in München in die europäische Öffentlichkeit geschleudert, wo Besonnenheit und ein Empfang von Bürgerinnen und Bürgern den Beginn von zivilgesellschaftlichen Netzwerken und Unterstützungsstrukturen, andeutete. Budapest-Keleti und Umlegung der Fluchtrouten durch die ersten Zäume an der ungarischen Grenze standen für die Kehrseite einer ungelösten Europäischen Lösung. Inzwischen haben Österreich, Schweden, Dänemark und Deutschland Grenzkontrollen eingeführt.

Vier Punkte, die auf unterschiedliche Weise die Europäische Flüchtlingspolitik behandelten (Ausprache ab 15 Uhr), wurden in der heutigen Plenardebatte zusammengefasst. Also hörten wir einmal mehr, dass es darum gehen muss, den Flüchtlingsstrom besser zu managen und die Zukunft von Schengen zu sichern, damit an den Binnengrenzen weiter Freizügigkeit herrschen kann. Kaum ein Wort zu diesem reduzierten Weltbild, bei gleichzeitiger Beschwörung der Freiheit und Europäischer Werte und kaum ein Wort zu Europas Mitverantwortung für die Fluchtursachen. Auch später blieb die Debatte dazu marginal. Einen Rekurs auf die Friedensbemühungen in Genf zu Syrien konnte man in den unzähligen Reden an einer Hand abzählen.

Die niederländische Ratspräsidentschaft, so das Entree, will in der Sitzung am 25./26.2. pragmatische Lösungen anbieten, damit das Schwarze-Peter-Spiel zwischen den Mitgliedsstaaten beendet wird. Zwar wurde einleitend betont, dass das Prinzip der Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden an Grenzen international gültig ist, weshalb der § 33 der Genfer Konventionen auch als Artikel 18 in der EU-Grundrechtecharta und im  EU-Vertrag zu finden ist. Bert Koenders, der die Niederländische Ratspräsidentschaft vertrat, forderte immerhin, dass die weitere Festlegung sicherer Drittstaaten und jegliche Rückführungspolitik nur auf menschenrechlicher Basis erfolgen kann. „Grenzen können nicht zu Lasten Asylsuchender geschützt werden“. Wer an dieser Stelle einen direkten Link zur EU-Politik mit der Türkei erwartet hatte, kritische oder differenzierende Worte zum 3 Milliarden Deal oder präzisierende Ansagen, wie und an wen das Geld genau gehen soll, wartete vergebens. Das blieb den Nachfragen und Hinweisen einiger Abgeordneten vor allem von den Linken und den Grünen vorbehalten. Antworten hörte man an diesen Tag keine. Was man also mit nach Hause tragen konnte, war, dass nun die genauen Konditionen zur Flüchtlingsfazilität, gedacht für die Integration syrischer Flüchtlinge in der Türkei, erarbeitet werden und „das Parlament dazu auf dem Laufenden gehalten wird.“  Die Flüchtlingsfazilität sollte ab 1. Januar in Kraft treten. Stattdessen wird noch immer herumgeirrt, wie die 3 Mrd. €, dieses durchaus fragwürdigen Grenz- und Denkschutzes für Europäische Lösungen, nun ausgestaltet wird. Währenddessen sterben weiter Menschen im Mittelmeer. 386 Menschen waren es im Januar 2016, wie der Kommissar, Dimitris Avramapopoulos, einleitend angab. Meine Delegationskollegin, Conny Ernst, fragte dann noch mal genau nach, wie der Grenzschutz denn genau aussehen soll. Antworten gab es nicht.

Was zum – auf Betreiben unserer Fraktion hinzugefügten – Tagesordnungspunkt zu Gewalt gegen Flüchtlinge in Europa – einleitend ausgesagt wurde, war wenig überraschend: Wir müssen Flüchtlinge vor Hassverbrechen schützen und Bert Koenders betonte, dass wir den unbegleiteten Kindern besondere Aufmerksamkeit schenken müssen, dass die Berichte von Europol über die verschwundenen 10.000 Kinder erschreckenden Handlungsbedarf gegen organisiertes Verbrechen offenbaren.

Eine wenig erstaunliche, aber bittere Feststellung des Tages ist folgende: Das Ausbleiben einer koordinierten und solidarischen Flüchtlingspolitik war und ist ein Festmahl gespickt mit grauenvollen verbalen Angriffen auf Flüchtlinge für nationalistische und faschistische Politikerinnen und Politiker. Sie halten – voller Klischees kulturalistisch und ahistorisch begründet – jegliches Verhandeln mit der Türkei ohnehin für den falschen Weg. Inzwischen wissen wir, dass einige von ihnen, die da im Europaparlament sitzen, auch Schusswaffen gegen Flüchtlinge einsetzten wollen. Auch ansonsten wurde nichts ausgelassen, was wir aus der Debatte nach Köln nicht schon kennen: Es wurde weder die Instrumentalisierung des alltäglichen Sexismus für alle Spielarten des Rassismus ausgelassen noch blieben die Mythen der Überforderung und Überlastung für ganz Europa mit seinen 500 Millionen Menschen im Kasten. Ein Blick auf die Länder rings um Syrien, in den Libanon, nach Jordanien, in die Türkei würde genügen, um nochmals festzuhalten, dass Europa hier nicht vor der größten Aufgabe aller Zeiten stünde, doch selbst wenn, wäre eine beherzte Lösung besser als keine. Die Sozialdemokratin, Birgit Sippel reagierte darauf klar und besonnen: Nicht die Zahl der Ankommenden ist für Europa das Problem – 800.000 Menschen kamen im vergangenen Jahr in Griechenland an und hätten dort nach geltenden Gesetzen blieben sollen – das Problem ist die seit Jahren verschleppte europäische Krise der Verantwortungslosigkeit für eine humane Flüchtlingspolitik. Aus Bequemlichkeit wird hier Europa zerstört und dieser Prozess ist immerhin schon ein paar Jährchen deutlich sichtbar und zurecht befand sie, dass das Reden über Menschen inzwischen einen gehörigen Grad an Unerträglichkeit angenommen hat.

In der Auftaktdebatte hatte der Fraktionsvorsitzende der Liberalen, Guy Verhofstadt, kurzerhand verlangt, nun schleunigst mehr EU-Hilfen nach Griechenland zu senden, die Küstenwachen zu verstärken und diese Entscheidung flugs am 18. Februar im Rat mit der Kommission zu treffen. Griechenland allein kann die nicht vorhandene Europäische Flüchtlingspolitik nicht wegtragen und andererseits forderte er, der UN endlich genug Geld für die Flüchtlingscamps im Libanon und in der Türkei zu geben, statt Monate zu warten und auf die unbeweglichen Mitgliedsstaaten zu starren. Der Zungenschlag war insofern interessant, weil damit immerhin gesichert wäre, dass das Geld wirklich bei den Flüchtenden und den Hilfe- und Integrationsstrukturen in der Türkei und rund um Syrien ankäme, bei Vereinen und Netzwerken, die das seit Jahren professionell betreiben.

Dimitris Papadimoulis, Vizepräsident des Parlaments und unser stellvertretender Fraktionsvorsitzender, war mit seinen Hinweisen davon nicht all zu weit entfernt. Es wird kein Europa a la cart geben, sagte er, wo die Agrarsubventionen und die Förderfonds in den Mitgliedstaaten willkommen sind, die Länder sich dann aber bei überfälligen gemeinsamen Entscheidungen einfach nicht bewegen. Griechenland und Italien lassen sich nicht zu Sündenböcken abstempeln. Sie brauchen endlich – neben den aktiven internationalen Netzwerken an den Küsten – Hilfe und er nahm bei den Lösungen für eine humane Flüchtlingspolitik hier auch den Generalsekretär von Frontex beim Wort, der diese Verstärkung ebenso einforderte. Papadimoulis diagnostizierte kurz: Europa wird sich auflösen, wenn wir die Flüchtlingspolitik nicht europäisch lösen.

Wenn denn also für die Kommission klar ist, dass das Prinzip der Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden umverhandelbar ist, dass niemand aus dem Schengenraum ausgeschlossen wird, denn dies hatte der Kommissar eingangs klargestellt, dann ist die Fruchtlosigkeit dieser Debatte nicht hinnehmbar. Statt einer unlösbaren Flüchtlingsfrage, die ganz sicher viele Facetten zur kurzfristigen und ebenso zur nachhaltigen Klärung hat, haben wir es ganz deutlich mit einer Handlungskrise der EU zu tun.

Foto: Konstanze Kriese – Westbahnhof Wien, 5. September 2015 Flüchtende wollen nach München

(Da hier nur über die Debatte informiert wurde und in den 1 min Reden der ParlamentarierInnen nicht ganze Konzepte ausgebreitet werden, verweisen wir hier auf die Leitlinien unserer Fraktion und natürlich auf die vielen Einzelbeiträgen zur Flüchtlingspolitik auf der Homepage „DIE LINKE. im Europaparlament”.)