Netzneutralität ist mehr als eine industriepolitische Fachfrage

Beitrag von Martina Michels zur heutigen Abstimmung über die elektronische Kommunikation in der EU.

Gestern schrieb der Erfinder des WWW, Sir Tim Berners-Lee, den Europaparlamentarierinnen und -Parlamentariern eine Nachricht:

‚Tomorrow, members of the European Parliament face a key vote on the future of the internet. The proposed regulations in front of them are weak and confusing. To keep Europe innovative and competitive, it is essential that MEPs adopt amendments for stronger “network neutrality” (net neutrality). When I designed the World Wide Web, I built it as an open platform to foster collaboration and innovation. The Web evolved into a powerful and ubiquitous platform because I was able to build it on an open network that treated all packets of information equally. This principle of net neutrality has kept the Internet a free and open space since its inception. Since then, the Internet has become the central infrastructure of our time — every sector of our economy and democracy depends on it.’

Mit der Debatte und Abstimmung zur Regulation der elektronischen Kommunikation in der EU ging es heute einmal mehr um die Sicherung oder genauer die Verteidigung der Netzneutralität. (1)

Innerhalb des Kulturausschusses (CULT) arbeiten wir zur Zeit, wie viele andere Ausschüsse, an einer Stellungnahme für den kommenden Bericht über den digitalen Binnenmarkt (Digital Single Market), der im Verbraucherschutz- und Binnenmarktausschuss (IMCO) und im Industrieausschuss (ITRE) federführend bearbeitet wird. Mit der heutigen Entscheidung zur Regulation der Telekommunikation werden dafür allerdings entscheidende Weichen gestellt, denn das Parlament befindet heute über legislative Entscheidungen zur Beschaffenheit des digitalen Netzes, eines Grundpfeilers unseres modernen gesellschaftlichen Betriebssystems.

Die Erhaltung der Netzneutralität, das gleiche und freie Netzes für alle, ist nicht nur ein technologisch zu sichernder Standard, dem industriepolitische Aufmerksamkeit gebührt und das nach einem kommerziellen Interessenausgleich im Ausbau verlangt. Netzneutralität garantiert vor allem aus gesellschaftspolitischer, aus kultur- und bildungspolitischer Perspektive die Teilhabe an Bildung, Wissen, Forschung und Kommunikation von heute, an den praktischen Möglichkeiten aller, sich die Kulturtechniken moderner Gesellschaften anzueignen.

Bleiben wir bei der Netzneutralität ungenau und verwirrend, weil wir uns mit der Abschaffung der Roaminggebühren die Genauigkeit einer klaren Festlegung zur Netzneutralität abkaufen lassen, haben wir nichts gewonnen. Mit der heutigen Abstimmung zur elektronischen Kommunikation ist die grassierende Privatisierung und damit Aufhebung der Netzneutralität nicht gebannt. Lassen wir aber ein ungleiches Netz weiter zu, so kann die Kommission ihre großen Pläne zum Digitalen Binnenmarkt sofort als unerfüllbare Blütenträume abhaken. Dann wird sie vergeblich auf neue Arbeitsplätze und Innovationen warten, wenn vorab schon Lernende und Forschende, kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), Bürgerinnen und Bürger ausgebremst werden, weil sich nach Auffassung der großen Telekommunikationsunternehmen ein digitales Netz mit zwei und mehr Geschwindigkeiten durchsetzen soll.

Eine privatisierte Datenautonbahn mit Mautstellen, wie sie mit Zero-Rating-Modellen angefacht und tendenziell schon längst erprobt werden, begrenzen unternehmerische und kulturelle Freiheit und Kreativität gleichermaßen. Ein rein kommerziell gesteuertes Netz, dass Nutzungshierarchien aufschichtet, schadet nicht nur Verbraucherinnen und Verbrauchern, KMUs, Bibliotheken, Hochschulen, dem Kulturaustausch und der freier Forschung. Es lähmt letztlich auch das Innovationspotential von Telekommunikationsunternehmen. Sie sollen gute Geschäftsmodelle und besten Service anbieten, um zu verdienen, statt ihren Profit auf der ideenlosen und unkreativen Basis der Zerstückelung des freien und gleichen Internets zu sichern.

Die Telekommunikation und damit die Anbieter diverser Dienste lassen sich politisch ganz einfach fördern, indem der regionale Breitbandausbau massiv unterstützt wird, damit nicht länger ganze Regionen wirtschaftlich und kulturell abgehängt werden.

Das ist allemal wertvoller, wirtschaftlich erfolgreicher und kulturell interessanter, als eine verantwortungslose Politik für ein privatisiertes Internet mit mehr Geschwindigkeiten.

Deshalb hat unsere Fraktion schon im Vorfeld der Abstimmungen die guten Änderungsanträge von Michel Reimon von den Grünen unterstützt.

Auch unabhängig der heutigen Abstimmung wissen wir: Das Thema ist nicht erledigt, die Angriffe auf die Netzneutralität werden weiter gehen.

Wir sollten hier endlich fachübergreifend zusammenarbeiten, denn Netzneutralität ist mehr als eine industriepolitische Fachfrage. Sie berührt das Grundrecht auf Bildung, kulturelle Teilhabe, auf Wissensaustausch, freie Information und Kommunikation und deren Erhalt ist zuerst eine demokratiepolitische Frage, die unsere ganze Gesellschaft betrifft.

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(1) Es geht den ENTWURF EINER EMPFEHLUNG FÜR DIE ZWEITE LESUNG betreffend den Standpunkt des Rates in erster Lesung im Hinblick auf den Erlass der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten sowie der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union, vom 29.09.2015 aus dem Industrieausschus, ITRE_PR(2015)567840, PE 567.840v01-00, von Pilar del Castillo Vera.