Koalitionsvertrag von CDU, CSU & SPD aus europapolitischen Perspektiven

mit Exkursen zur Digitalsierung und zur Migration

Der vollständige Text zur Auswertung des Koalitionsvertrags zwischen CDU, CSU und SPD aus europapoltischen Perspektiven von Martina Michels und Konstanze Kriese, findet sich am Ende dieser Seite zum Download.

Im ersten Kapitel des Koalitionsvertragsentwurfs (1)von CDU, CSU und SPD „Ein neuer Aufbruch für Europa“wurde im Unterschied zur Fassung nach der Sondierung erstmalig der Brexit erwähnt. Neu aufgenommen wurde ebenfalls eine europäische „Einordnung“ von Flucht und Migration, die „die europäische Partnerschaft und Solidarität auf eine harte Probe (stellen)“(2). Wenige Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrisen werden zumindest angeführt, z. B. „ [ist] Jugendarbeitslosigkeit …  in Teilen Europas noch immer besorgniserregend.“ (3) Damit sind allerdings nur punktuelle Problemlagen, die scheint ’s wie Naturereignisse oder Schicksalsschläge über uns gekommen sind und einem „starke(n), demokratische(n), wettbewerbsfähige(n) und soziale(n) Europa“ im Wege stehen, aufgeführt. Diese werden um, innerhalb dieses Abschnittes undefinierte, neue geostrategische Herausforderungen ergänzt. (4)

Der neue Aufbruch erschöpft sich darin, die europäischen Verträge im Wesentlichen zu verteidigen, denn in ihnen sind „freiheitliche, demokratische Grundprinzipien“ verankert und „unsere Werte und unser solidarisches Gesellschaftsmodell“, welche sich mit der „Sozialen Marktwirtschaft“ verbinden. Bei so viel Verankerung und Verteidigung „unserer Werte…“ von einem Aufbruch zu sprechen, wirkt allein kommunikativ schon widersinnig.

Im Koalitionsvertrag sucht man letztlich vergebens nach einem Problembewusstsein für die politisch unbehausten Währung (5), während hinter allem, was politische Transparenz erfordern würde, längst Jens Weidmann als Nachfolger an der Spitze der EZB in Stellung gebracht wird. Die gravierenden ökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der EU werden nicht erwähnt. Der Krisengewinner Deutschland hat für den Brexit nur ein knappes Bedauern übrig. Einmal mehr schweigt man sich über die eigene Position als ökonomischer Krisengewinner innerhalb Europas aus, von der Wirtschafts- und Bankeneliten kräftig profitieren.

  1. Bei der Flüchtlingspolitik geht man auf die Rechtspopulisten im vorauseilenden Gehorsam zu und beugt sich der Handschrift der CSU. Mit Dublin IV werden wir trotz großer Bemühungen des LIBE-Ausschusses, z. B. beim Familiennachzug, keinen Schritt hin zu einem solidarisches und weltoffenen Europa bekommen. Der Frust von Italiener*innen und Griech*innen gegenüber Deutschland ist jetzt schon enorm. Fluchtursachen werden nicht analysiert, sondern nur kurzatmige Konzepte gegen die schlimmsten aktuellen Begleitformen von Flucht (Schlepperindustrie, Menschenhandel) entworfen.
  2. Friedlich muss Europa offenbar gar nicht mehr sein, folgt man zumindest der deklamatorischen Zielsetzung vom „starke, demokratischen, wettbewerbsfähigen und sozialen Europa“ und Schritten zu einer „europäischen Armee“.
  3. Den EFSI als europäischen Investitionsjoker zu verteidigen, ist geradezu abenteuerlich, ebenso die dürftigen Aussagen zur Kohäsionspolitik, deren Konsequenzen vor allem die Länder und Kommunen ausbaden werden.
  4. Ebenso wäre eine klare Haltung zum Brexit eine Chance, in einer erneuerten europäischen Politik zugleich Lösungsangebote für offene innenpolitische Fragen zu unterbreiten, um die wachsende soziale Ungleichheit, den Investitionsstau, die Krise der politischen und institutionellen Öffentlichkeit und anderes wirklich zukunftsfest zu bearbeiten und damit wirksame Strukturen gegen das Demokratiedefizit der europäischen Institutionen aufzubauen. Ein transparentes Verfahren für eine Besetzung des Chefpostens bei der EZB wäre dafür ein guter Anfang.
  5. Digitalisierung wird einmal mehr auf eine technologische Entwicklung verkürzt, deren Wertschöpfung man nun ankurbeln sollte. Doch Digitalisierung ist mehr als ein Konfliktfeld, das Wirtschaft und Arbeitsmarkt fest im Griff hat. Sie betrifft die öffentliche Verwaltung, Gesundheit, Bildung, Demokratie, Kommunikation, Kultur und Medien und braucht deshalb politisch ausgehandelte gesellschaftliche Grundprinzipen, die mit dem Dreigestirn: Netzneutralität, Datenschutz und einem modernen Urheberrecht, das auch institutionellen wie individuellen Nutzerinnen und Nutzern mehr Rechte einräumt, noch immer bestens beschrieben sind.
  6. Einem munteren Angriff von links stehen mit diesem Koalitionsvertrag, auch in Vorbereitung der Europawahlen 2019, viele Tore offen.

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(1) Stand 7.2.2018, 12:45, Quelle: 20180209_Europapolitik im Koalitionsvertragsentwurf

(2) S. 6 , Zeile 100

(3) ebenda, 100ff.

(4)  Im Außenpolitikkapitel XII sind dann Beziehungen und Entwicklungen zu diversen Weltregionen, wie dem Nahen Osten, Afrika u. a. ausgeführt. (siehe hier einige Auszüge und Positionierungen unter Abschnitt 2 des Textes)

(5) Wenn auch hier mit einer Übernahme eines nun auch von Macron wiederholten Vorschlages eine sanfte Abkehr von der alleinigen Entscheidungsgewalt der Mitgliedstaaten im Rat aufscheint, die nach der Finanzkrise erst etabliert wurde. „Den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wollen wir zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, der im Unionsrecht verankert sein sollte.“, ebenda, Z. 246 – 248 Zugleich ist die Autonomie der nationalen Parlamentsentscheidungen hervorgehoben.

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Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.