8. Mai 2015 in Berlin

Veranstaltung der Delegation DIE LINKE im Europaparlament „Nachkriegseuropa verstehen – Europa heute gestalten“ 1945-2015. 70 Jahre Befreiung mit den Europaabgeordneten  Manolis Glezos, Gabi Zimmer und Martina Michels   Podium
Nachkriegseuropa verstehen – Europa heute gestalten
Gespräch mit den Zeitzeugen und Antifaschisten:
Manolis Glezos
Beate Klarsfeld
sowie den Europaabgeordneten Gabi Zimmer und Martina Michels
Moderation des Abends: Astrid Landero Musik  Andrej Hermlin

Begrüßungsrede von Dr. Klaus Lederer, MdA, Landesvorsitzender DIE LINKE. Berlin, zur Veranstaltung

„70. Jahrestag der Befreiung“:

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Beate Klarsfeld, lieber Manolis Glezos, liebe Genossinnen und Genossen,

es freut mich besonders, Sie und Euch heute zur Veranstaltung „70. Jahrestag der Befreiung“, organisiert von den deutschen Europaabgeordneten aus der GUE/NGL-Fraktion, aus der Konföderierten Fraktion der Linken/Nordische Grüne, begrüßen zu dürfen.

Bereits heute Morgen haben viele von uns des Blutzolls der Menschen im Antifaschistischen Widerstand, der Verfolgten des Naziregimes und der Befreierinnen und Befreier aus unzähligen Nationen auf Seiten der Alliierten gedacht. Und es ist eine Schande, dass der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus, noch immer kein bundesweiter Gedenktag ist.

Und wenn wir das aktuelle Tagesgeschehen in Deutschland verfolgen, können wir begründete Zweifel haben, dass der Schwur von Buchenwald an Aktualität verloren hat. Ich will hier noch nicht einmal über die Zunahme globaler Kriege und die latente Gefahr kriegerischer Konflikte mitten in Europa sprechen. Es genügt, sich die deutschen Verhältnisse zu vergegenwärtigen:

Rassistische und xenophobe Massendemonstrationen, wie wir sie lange nicht erlebt haben, brachen sich Bahn. Und das keine 5 Jahre, nachdem der Terror des Nationalsozialistischen Untergrundes NSU aufgedeckt wurde. Und zwar nicht durch solide polizeiliche Ermittlungsarbeit, denn Polizei- und Sicherheitsbehörden wie Geheimdienste waren strukturell blind auf dem rechten Auge. Sondern eher zufällig. Und während PEGIDA mehr als 30.000 Menschen auf die Beine bringt, waren es bei der antirassistischen Demonstration in Berlin beim Auftakt des NSU-Prozesses beim Oberlandesgericht München gerade mal 1.500. Wo bleibt die Empathie für die Betroffenen und die Angehörigen, die zunächst selbst unter Verdacht gesetzt worden sind?

Sprechen wir auch über die Instinktlosigkeit der Bundesregierung, die nicht begreift, dass die Verneigung vor den Opfern auf Seiten der Befreier – deren größte Last die Völker der damaligen Sowjetunion zu tragen hatten –, ein Signal der Verantwortung gegenüber der eigenen Geschichte ist. Und zwar völlig unabhängig davon, wie wir heute zur Politik der Regierenden stehen, die jetzt in den ehemaligen Sowjetrepubliken und GUS-Staaten das Sagen haben. Die Alliierten und ihre Kombattanten – ihnen verdanken wir die Befreiung von einem Regime, das einmalige und nicht wiederholte Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Szene gesetzt und exekutiert hat.

Auschwitz mahnt uns, Sonnenburg und Bergen-Belsen mahnen uns, Dachau, Sobibor, Mauthausen und Sachsenhausen. Aber auch Marzabotto, Distomo, Oradour sur Glane, Lidice und Guernica mahnen uns.

Wir Deutschen – und das kann mit keinem Schlussstrich getilgt werden – stehen in tiefer historischer Verantwortung vor der Weltgemeinschaft. Wir haben alles zu tun für die Achtung der Menschlichkeit, für eine humane, soziale, gerechte Zukunft ohne Kriege.

Geehrte Anwesende,

Mahnung und Erinnerung geraten in Deutschland nicht selten zu Ritualen, derer sich die Politik pflichtgemäß zu entledigen hat. Meine Empörung kennt keine Grenzen, wenn das Protokoll es angeblich erfordert, dass die Überlebenden deutscher Konzentrationslager bei einem Festakt aus dem Plastiknapf essen müssen, während die Politprominenz mit Porzellan und Silberbesteck speist.

Der Geschäftsführer der Niedersächsischen Gedenkstätten, Jens-Christian Wagner, hat die Praxis der Gedenkrituale jüngst scharf kritisiert. Nur selten sei das mehr als ein „Kult der Erinnerung“, ohne nachzudenken.

Viele Gedenkfeiern förderten nur noch „Betroffenheitskitsch“, bedauert Wagner. „Bei dem ganzen Hype um den 70. Jahrestag des Kriegsendes findet eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem damaligen Geschehen zu wenig statt.“ Ich teile diese Kritik. Und deshalb freut es mich besonders, dass es uns gelungen ist, in diesem Jahr gemeinsam eine andere Art des Erinnerns zu konstituieren. Gemeinsam, das heißt: die Genossinnen und Genossen im Europaparlament, der Parteivorstand, die LINKE-Landesverbände Berlin und Brandenburg.

Morgen werden wir um 11 Uhr im Kino „International“ eine politisch-kulturelle Matinee durchführen. Heute heißt es hier im Kino „Babylon“ im Untertitel unserer Veranstaltung: „Nachkriegseuropa verstehen – Europa heute gestalten.“

Ja, es geht nicht um das Gestern oder Vorgestern. Es geht um das Heute und um das Morgen. So wie heute über die Reparations- und Schuldenzahlungen an Griechenland zu sprechen ist, geht es auch um die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Täter. Nicht nur der Naziführer, sondern der vielen Beteiligten, die die Mordmaschine erst ermöglicht und ihr Funktionieren am Laufen gehalten haben.

Es geht um die Frage, was seit 1945 geschehen ist. Wir müssen verstehen.

So wie Manolis Glezos die Nazifahne 1941 von der Akropolis geholt hat und noch während des Obristenregimes erneut in den Kerker geworfen wurde, uns berichten kann, wollen wir zuhören.

Und so wie Beate Klarsfeld 1968 mit ihrer mehr als verdienten Ohrfeige Kurt-Georg Kiesinger an seine Verantwortung erinnert und die Würde der Hingerichteten und Gemarterten wieder hergestellt hat, so wie sie gekämpft hat, um die mörderischen Verbrechen der Nazis zu sühnen, wollen wir heute kämpfen, um dem braunen Ungeist keinen Fußbreit mehr zuzugestehen.

Mit dem Tag der Befreiung war nicht alles vorbei. Die historische Hypothek ist nicht abgetragen, der Schwur von Buchenwald nach wie vor von bedrückender Aktualität.

Wir wollen keinen „Streichelzoo mit Überlebenden“, um noch einmal Jens-Christian Wagner zu zitieren. Wir wollen eine aktive, bewusste Auseinandersetzung mit dem damals Geschehenen befördern. Wir wollen diejenigen zu Wort kommen lassen, die uns berichten können. Und wir wollen dabei den Bezug zum aktuellen politischen Leben herstellen, zur aktiven antifaschistischen Gestaltung unserer Gegenwart, ohne die es keine Zukunft gibt. Wir blicken nach Tröglitz, nach Dresden und auch in unsere Stadt, wo Flüchtlingsunterkünfte bedroht und antifaschistische Demonstrantinnen und Demonstranten nicht selten mit organisierten Nazis auf eine Stufe gestellt werden.

Liebe Anwesende,

ich danke Ihnen und Euch für die Beteiligung an der heutigen Veranstaltung. Es ist mir eine große Freude, Sie und Euch hier – auch im Namen der Veranstalterin – willkommen zu heißen. Und ich danke meinem Freund Andrej Hermlin, dass er unsere Auseinandersetzung mit dem Gräuel des Faschismus, vor allem aber mit den Herausforderungen der Gegenwart, musikalisch begleitet. Uns allen wünsche ich einen nachdenklichen, motivierenden Abend!