Regime der Angst

Rede zur Internationalen Medienfreiheitskonferenz gegen Zensur in der Türkei

(English below)

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Liebe Kollegen, liebe Gäste, liebe Journalisten,verehrtes Publikum, das sich überall für Medienfreiheit und Redefreiheit einsetzt

wir alle kennen die Fakten, die schreckliche Situation für Presse- und Medienfreiheit in der Türkei. Die altehrwürdige NGO, Freedom House, hatte die Türkei schon seit 2013 als „unfrei” eingestuft. Vergleichbar klingt die Erhebung der Medienfreiheitssituation von Reporter ohne Grenzen, die die Türkei zwischen Mexico und dem Kongo platziert.

Im Artikel 12 des aktuellen Berichts von Kati Piri über den jährlichen Fortschrittsbericht der Kommission ist alles Wesentliche zusammengefasst und dieser Bericht wird nächste Woche im Parlament in Strasbourg debattiert und abgestimmt. wie sie wissen.

Meines Erachtesn müssen wir von der Kommission einfordern, nicht nur den Dialog mit Erdigans AKP zu führen, sondern auch die Opposition zu unterstützen.

Das Ergebnis des Referendum zeigte uns eine tief gespaltene Türkische Gesellschaft und viel Hoffnung der Hälfte der Bürgerinnen und Bürger, das Menschenrechte universell sind und für Frauen, Kurden, oppositionelle Politiker und Minderheiten gleichermaßen gelten.

Während der zweiten Wahlperiode 2015 vermerkte die unabhängige Türkische Presseagentur Bianet eine erhebliche Zunahme an Übergriffen nicht nur gegen alternative und speziell Kurdische Medien, auch gegen klassische Medien und Presseorgane.

In dieser Zeit konnte dann auch das europaweit die Öffentlichkeit die Übernahme von Redaktionsbüros durch Staatsorgane erleben, wie im Fall von Cumhuriyet.

Gleichzeitig erleben die Bürger der Türkei von Tag zu Tag die Blockierung sozialer Netzwerke, wie ich es auch bei den Wahlbeobachtungen oder direkt nach dem Angriff in Ankara am 10. Oktober 2015 mitbekommen habe, als ich nach Diyarbakir reiste. Di9e Stadt war erstmalig von einer totalen Ausgangssperre in Sur, der Altstadt dieser großen kurdischen Metropole, betroffen.

Es wurde nicht nur die klassische Medienproduktion angegriffen, es traf auch die Vertriebskanäle und die Plattformen für alternative und internationale Nachrichten.

Seit 2014 forderte die türkische Regierung die Streichung von Inhalten auf Twitter immer häufiger. das war damals schon fünfmal mehr als jedes andere Land in der Welt und im Jahr 2015 erhöhte die die Türkei diese Rate noch einmal um 150%.

Die nationale Gesetzgebung, die diesen Prozess unterstützte, reicht weiter zurück als bis zum Zeitpunkt des ersten Verlusts der absoluten Mehrheit für Erdogans AKP im Juni 2015, als die HDP sicher die Schwelle von 10% überwand.

Jetzt schreiben wir das Jahr 2017 und wir wissen, dass nichts besser geworden ist.

Interview mit Martina Michels, 10. Februar 2017 Foto: Konstanze Kriese

Das Schweigen der EU und meiner deutschen Regierung bleibt Teil des EU-Türkei-Deal.

Die wenigen leisen Stimmen und kritischen Berichte des Parlaments haben an der drückenden Situation für Journalisten nichts verändert. Und als Mitglied des Europäischen Parlaments und Berlinerin möchte ich sagen: Die deutsche Regierung, die deutsche Gesellschaft hat eine besondere Verantwortung für einen fortlaufenden Dialog mit der Türkei. Meine Heimatstadt Berlin ist eine der europäischen Städte mit den größten türkischen und kurdischen Gemeinden. Und viele Wissenschaftler und Journalisten leben in Deutschland, falls sie die Chance hatten ins Ausland zu gehen und ihre Pässe oder ihre gesellschaftliche Existenz noch nicht weggenommen uind zerstört wurde.

Liebe Konferenzteilnehmer,
am vergangenen Freitag hat der Chefredakteur der Nachrichten-Portals journo.com.tr, Mustafa Kuleli, ein Interview in einer größeren deutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau veröffentlicht. Er hatte zwei Worte für die aktuelle Situation, in der viele Journalisten bereits im Gefängnis sind: Diese beiden Worte sind Angst und Selbstzensur.

Martina Michels im Gespräch mit einer der Anwältinnen der Co-Vorsitzenden der HDP, April 2017 | Foto: Konstanze Kriese

Im vergangenen April war ich in Ankara, um den Prozess gegen die Co-Vorsitzende der HDP zu begleiten, den Prozess gegen Figen Yüksekdağ: Wir waren eine kleine Gruppe internationaler Beobachter von linken Parteien, Sozialdemokraten, Frauenorganisationen und einige Mitgliedern der HDP. Es gab keinen offiziellen Kanal oder eine Zeitung, die über diese Delegation berichtete. Wollte man sich schließlich darüber informieren, musste man auf ausländische oder kleine alternative Presse- und Medienkanäle zurückgreifen.

Dies zeigt eines der Hauptprobleme in der Medienlandschaft in der Türkei.
Es gibt nicht nur zu wenige Journalisten, die in der Türkei arbeiten können. Weiterhin sind auch  30% der Journalisten in der Türkei arbeitslos im Vergleich zu 10%igen durchschnittlichen Arbeitslosenquote.

In einer völlig gespaltenen Türkei hat die Hälfte der Einwohner keine Möglichkeit, sich über alternative Medienquellen zu informieren. Die meisten, die Erdogan unterstützen, leben auf dem Lande. Es gibt fast nur die Medienberichterstattung, die der Regierung nahe steht.

Die Teilung der Gesellschaft ist also verdoppelt.

Was sollte und könnte getan werden?

Martina Michels mit den Anwälten und Anwältinnen vor dem Verhandlungssaal | Foto: Konstanze Kriese

Viele Institutionen, NGOs, den Europäische Rat und vor allem die Venedig-Kommission müssen wir nutzen, um Analysen über die Situation öffentlich zu machen.

Es gibt weitergehende Initiativen für Journalisten im Exil, wie zum Beispiel das Programm „Journalisten in Residenz” vom Europäischen Zentrum für Presse und Medienfreiheit.

Solche anonymen Programme sind nicht ausschließlich für die türkischen und kurdischen Journalisten und ihre Familien gedacht gewesen, aber in den letzten Jahren sind die meisten Bewerbungen aus der Türkei gekommen. Hier wissen wir, dass EU-Gelder goldrichtig ausgegeben werden.

Aber wir müssen uns um die Medienlandschaft kümmern und auch auf die Situation in der Türkei aufmerksam machen. Wir müssen uns um einen Informationstransfer, um den Schutz von Quellen und um alternative Formen der Medienproduktion kümmern, damit die Bürger der Türkei auch Online-Kanäle erreichen können und Solidaritätsprojekte aus ganz Europa erreichbar sind.

Leider muss ich Brüssel in der nächsten Stunde verlassen, um in Berlin mit kurdische Projekte und Kollegen zusammen zu treffen, aber ich werde ihnen die Informationen über diese Konferenz überbringen und ich hoffe, dass wir uns bald wieder mit besseren Aussichten treffen.

Ich hoffe, dass wir aus einigen praktischen Fällen wie der gazete.taz.de lernen können in den nächsten Stunden und noch mehr praktische Lösungen finden. Ich wünsche der Konferenz einen großen Erfolg mit praktischen Überlegungen und ich danke Ihnen für Ihre Einladung.

Vielen Dank.

Dear colleagues, dear guests, dear journalists,

dear audience fighting for media freedom and freedom of thought everywhere, we all know about the terrible situation for media- and press freedom in Turkey. The honourable NGO, Freedom House, already ranks Turkey as “not free” since 2013. Similar sounds the evaluation of Turkey’s press freedom-situation from Reporters without Borders, ranking Turkey between Mexico and Congo.

And in the article 12 of the current report of Kati Piri on the annual Turkey-report of the EU-Commission summarizes the essentials and on this report the plenary will debate and vote next week in in Strasbourg as you know.

From my point of view we have to call the commission to support not only a dialog with Erdogan’s AKP. The commission and the European Parliament, too, has to support the opposition, too.

The result of the referendum showed us a deeply divided Turkish society and a massively hope of the half of the citizens that humans rights are universal for women, for Kurds, for politicians from the opposition, for minorities.

During the second election in 2015 the independent Turkish press agency Bianet noted a rapid increase of attacks not only against alternative and especially Kurdish media channels and newspapers but also against classical audio-visual and print media.

In this time the European audience can witness the raiding of editorial offices by state organs, like in the case of Cumhuriyet.

At the same time, citizens of Turkey experience day by day the blocking of social networks, as I also did during the election observations or directly after the attack in Ankara on 10 October 2015, when I traveled to Diyarbakir. It was the first time of a total curfew of Sur, the old town of this big Kurdish metropolis.

Not only was the classical media production attacked, but also the distribution channels and the platforms for alternative and international news.

Since 2014 Turkey’s government requested the deletion of content on twitter very often; that was 5 times more than any other country in the world and in 2015 Turkey increased this rate once again by 150%.

The domestic legislation supporting this process dates back longer than the first loss of the absolute majority for Erdogan’s AKP in June 2015, when the HDP certainly reached the 10% threshold.

Now we write the year 2017 and we know nothing has become better since.

The silence of the EU and my German government remains part of the EU-Turkey-Deal. The few soft voices and critical reports from the Parliament have not changed in the oppressive situation for journalists.

And, as a Member of the European Parliament and home-based in Berlin, I would say: the German Government, the German society has a special responsibility for an ongoing dialog with Turkey. My hometown Berlin is one of the European cities with the largest Turkish and Kurdish communities. And a lot of scientist and journalists are living in Germany, in case they had the chance to go abroad and had not yet taken away their passports or their socal existence.

Dear conference-members,

last Friday, the editor in chief of the news-website journo.com.tr, Mustafa Kuleli, published an interview in a bigger German newspaper, called Frankfurter Rundschau. He had two words for the current situation many journalists who are already in jail currently face: These two words are fear and self-censorship.

Last April I was in Ankara to observe the trial against the co-chair of the HDP, Figen Yüksekdağ: We were a small group of international observers from the left party, the social democrats, women’s organisations and some members of the HDP. There was no official channel or newspaper that reported on this delegation. In the end to get informed on this one had to turn to foreign or small alternative press and media channels.

This shows one of the main problems in the challenged media landscape in Turkey.

Not only are there too few journalists who are able to work in Turkey. Further 30% of the journalists in Turkey are unemployed, compared to 10% of the national average unemployed rate. In a completely divided Turkey half of the inhabitants have no possibility to inform themselves through alternative media sources. Most of the parts supporting Erdogan live in the countryside.

There is almost only the media coverage left that is close to the government. The division of society is thus doubled.

What should and could be done?

A lot of institutions, NGOs, the European Council and especially the Venice Commission use to analyze and announce the situation to the public.

Other initiatives care for journalists in exile as well as the program “journalists in residence” from the European Center for Press and Media Freedom. Such anonymous programs are not exclusively for the Turkish and Kurdish journalists and their families, but in recent years the majority of applications have come from Turkey. Here we know that EU money is spent on gold.

But we have to take care for the media-landscape and for more public attention on the situation in Turkey, too.

We have to take care for an information-transfer, for the protection of sources and for alternative forms of media production so that the citizens of Turkey can also reach online channels or that solidarity projects from colleagues from all over Europe could reach them.

Unfortunately, I have to leave Brussels in the next hour to go to Berlin, to meet Kurdish projects and colleagues, but I will bring to them the information of this conference and I hope we meet again soon with better prospects.

I hope we could learn from some practical cases like the gazete.taz.de to find even more such practical solutions in the next few hours. I wish the conference to be a big success with practical outputs and I thank you for your invitation.

Thank you very much.