Keine Freiheit mit Grenzzäunen

Martina Michels im „neuen deutschland“ über den Totalausfall der Europäischen Union bei einer menschlichen Flüchtlingspolitik:

Terrorismus und Flüchtlingspolitik – die Innen- und Justizminister bzw. -ministerinnen der EU-Länder befassten sich zu Wochenbeginn mit den drängenden Themen dieser Zeit. Das Treffen blieb jedoch beschlussfrei.

Terrorismus und Flüchtlingspolitik – die Innen- und Justizminister bzw. -ministerinnen der EU-Länder befassten sich zu Wochenbeginn mit den drängenden Themen dieser Zeit. Das Treffen blieb jedoch beschlussfrei. Derweil ziehen Mitgliedsstaaten Grenzzäune hoch, verkünden Obergrenzen oder nehmen Geflüchteten Barvermögen oder Schmuck ab.

Noch im Frühjahr begann beinahe jede Plenartagung in Straßburg mit Schweigeminuten für das Massengrab Mittelmeer. Im Juli mahnte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur Rettung der Europäischen Idee der Freiheit, warb für eine menschliche Flüchtlingspolitik. Inzwischen haben sich die Bilder von Budapest-Keleti, von brennenden Flüchtlingsunterkünften, die ekelhaftesten rassistischen Diskurse eingraviert. Die Europapolitik gibt sich komplett ratlos. Dem stemmt sich europaweit bürgerschaftliche Flüchtlingshilfe entgegen. Dass die Bewohnerinnen und -bewohner der griechischen Inseln gemeinsam mit den internationalen Netzwerken für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurden, wirkt wie das letzte Aufbäumen gegen den Totalausfall der Friedensnobelpreisträgerin EU bei der Bewerkstelligung einer humanen Flüchtlingspolitik.

Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) garniert seinen finalen Tunnelblick – der sich nur noch auf effektivere Grenzsicherung der EU richtet – mit der Ahnung, dass dies nichts bringen wird, wenn wir kein faires Verteilungssystem haben. Andererseits hat die EU schon bei der homöopathischen Problemlösungsdosis für 160 000 Menschen versagt. Juncker resigniert: Das Dublin-System muss reformiert werden, doch dies scheitert immer wieder an der unzureichenden Einsicht … Und wir reden über Polen, Ungarn, Dänemark und Österreich.

Derweil klingelt der alte Geheimrat Goethe im Ohr: »Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit in der Türkei, / Die Völker aufeinander schlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus …«

Aus Merkels »Wir schaffen das« wurde ein mediales »WIR gegen DIE« statt einer Einbindung der zivilgesellschaftlichen Flüchtlingshilfe in europäische Antworten für legale Fluchtrouten und eine Akzeptanz der realen Problemlagen von den griechischen Inseln bis zu den Wartenden vorm LAGeSo in Berlin. Selbst die Kanzlerin hat von Beginn an falsch gespielt und den grauenvollen Deal eingefädelt, dass ausgerechnet die Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa aufhalten soll.

Das Ergebnis ist eine massive Bekämpfung von Flüchtlingen, wie sie im Sommer 2015 noch nicht vorstellbar war – statt der Bekämpfung von Fluchtursachen. Inzwischen scheint auch in den außenpolitischen Lageeinschätzungen der letzte Verstand aufgebraucht. In einer gemeinsamen Erklärung zu den deutsch-türkischen Regierungskonsultationen vom 22. Januar hieß es: »Die jüngsten, abscheulichen Anschläge in Istanbul und zuvor in Ankara und Suruç bestätigen die (…) Notwendigkeit, die Zusammenarbeit im rechtmäßigen Kampf gegen den Terrorismus (…), einschließlich Da’esh, PKK, DHKP-C und anderen, weiter zu vertiefen.« Das Vorgehen gegen die mehrheitlich kurdische Zivilbevölkerung im Südosten der Türkei, gegen kritische Medien, Intellektuelle und die politische Opposition HDP bleiben unerwähnt. Der Syrienkrieg wird auf ein Problem mit dem Islamischen Staat verkürzt. Das Ergebnis derartiger Fehleinschätzungen ist die anhaltende Existenzbedrohung vieler Kurden und Kurdinnen. Auch sie werden versuchen, sich nach Mitteleuropa aufzumachen.

Derzeit produziert die EU – nach der Verschleppung Jahrzehnte währender Konflikte – mit großer Unterstützung Deutschlands de facto nur neue Flüchtlinge. Vergegenwärtigen wir uns, dass 86 Prozent aller Flüchtlinge aus dem Nahen Osten sich nicht nach Europa aufgemacht haben, dann ahnen wir, wie tief humane Lösungen greifen müssen, wie weit die politische Untätigkeit reicht.

Die Linksfraktion im EU-Parlament veranstaltete diese Woche eine Konferenz zu den Beziehungen der EU zur Türkei unter Beteiligung von Vereinen, der Wissenschaft, Sozialdemokraten und Grünen. Denn die Wiederaufnahme des kurdischen Friedensprozesses ist einer der Schlüssel zur Lösung der Flüchtlingsfrage. Europa ist schließlich keine Insel. Freiheit mit Grenzzäunen wird es nirgendwo auf der Welt geben.

Siehe auch im nd vom 28.1.2016