EU-Türkei-Abkommen, der Fortschrittsbericht zur Türkei 2015 und das Konzept des sicheren Drittstaates

Foto von Amnesty International in Twitter: Martina Michels auf der ICR Konferenz in Istanbul, 14.5.2016

Anmerkungen zur Verantwortung der EU bei der Lösung der Flüchtlingsfrage

Rede von Martina Michels,

Istanbul, 14.5.2016

– im Rahmen der International Comunity and Refugees (ICR) Conference von Amnesty International, unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Englische Version hier

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Aktivisten,

Danke für die Einladung. Ich muss vorausschicken, dass der EU-Türkei-Deal wirklich ein „Dirty Deal“ ist. Ich werde das auch begründen.

Wir brauchen offenen Räume, wie hier, um Informationen über Chancen faier Beziehungen zwischen der EU und der Türkei auszutauschen.

Ich möchte über die Verantwortung der EU in den gegenwärtigen Prozessen sprechen und zwei einfache Fragen diskutieren:

  1. Warum zwingen 27 Staaten Griechenland, die Türkei wie nach dem Konzept des sicheren Drittstaat zu behandeln?
  2. Warum schweigt die Kommission und der Rat gegenüber den Kurden, die Flüchtlingssituation zu beiden Seiten der Grenzen, über die Lage der Akademiker, die Situation der Pressefreiheit, die politische Opposition und auch den Kampf im Herzen der AKP für ein präsidiales System?

Die Debatte um den Fortschrittsbericht der Kommission zur Türkei 2015 war von Seiten des Parlaments gegenüber den politischen Entwicklungen in der Türkei kritisch und deutlich.

Gerade ist der Kampf für ein Präsidialsystem in der Türkei ist in eine neue Runde gegangen.

So fragwürdig das EU-Türkei Abkommen in der Flüchtlingsfrage ist, es verlangte die Anti-Terrorgesetzgebung in der Türkei an die Menschenrechte zu binden.

Eine Kriminalisierung der Opposition, wie die drohende Aufhebung der Immunität von Abgeordneten und Prozesse wie gegen Can Dündar wären damit möglicherweise ausgeschlossen.

Jetzt steht der EU-Türkei-Deal auf der Kippe, weil sich der Ministerpräsident zurückzieht, eine neue Auslegung der gegenseitigen Verpflichtungen vorgenommen wird.

Um etwas zu fairen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu sagen, erlaube ich mir eine kleine Zeitreise.

Lassen sie mich vor 13 Jahren beginnen. Keine Angst, ich werde schnell zur Gegenwart zurückkommen.

Foto: Konstanze Kriese

2003, Angela Merkel, war in der Opposition zur rot-grünen Regierung. Ein EU-Beitritt der Türkei hatte keine Chance auf ihrer politischen Agenda. Sie setzte sich im Europawahlkampf 2004 für einen christlichen Gottesbezug in einer Europäischen Verfassung ein. Damals schrie noch niemand die Parolen vom Untergang des Abendlandes durch den Islam auf der Straße.

Heute sind diese Denkfiguren common sense in rechtspopulistischen Parteien Europas.

Damals waren die Gegner fairer Beziehungen mit der Türkei noch die großen konservativen Parteien. Vielleicht ist dies heute gar nicht anders.

Doch vor 11 Jahren setzte sich Vernunft und die Argumentation durch, dass Beitrittsverhandlungen die demokratischen Kräfte in der Türkei, in allen politischen Lagern, stärken können.

Die ersten Verhandlungen zum Beitritt wurden endlich im Oktober 2005 aufgenommen.

Exakt zur selben Zeit antwortete Orhan Pamuk Angela Merkel auf ihre Idee vom christlichen Gottesbezug in einer Europäischen Verfassung. Er bekam damals den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und sagte in seiner Dankesrede:

„In all den Romanen, die ich in meiner Jugend las, wurde Europa nicht über das Christentum definiert, sondern vielmehr über den Individualismus. Europa wurde mir auf attraktive Weise durch Romanhelden vermittelt, die um ihre Freiheit kämpfen und sich verwirklichen wollen. Europa verdient Anerkennung dafür, dass es auch außerhalb des Westens die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefördert hat. Wenn Europa aber vom Geist der Aufklärung, der Gleichheit und der Demokratie beseelt ist, dann muss die Türkei in diesem friedliebenden Europa ihren Platz haben. Genau wie ein Europa, das sich nur auf das Christentum stützte, wäre eine Türkei, die ihre Kraft nur aus der Religion bezöge, eine die Realitäten verkennende, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandte Festung.“

Pamuk sprach von Freiheit, Gleichheit und Solidarität und dass diese Werte nur die Qualität von Grundwerten haben, wenn sie global und für alle gelten.

Doch was macht die EU gegenwärtig?

Anstatt eine Lösung für eine gemeinsame humane Flüchtlingspolitik, schottet sie sich ab, verschärft regionale Konflikte und produziert neue Probleme.

Die Leidtragenden sind Flüchtlinge, sind die politische und gesellschaftliche Opposition in der Türkei.

Die Gewinner des EU-Türkei-Deals sind die Anhänger eines Präsidialsystem in der Türkei.

Die Gewinner sind Rassisten und Rechtsradikale innerhalb Europas.

Die EU- hat sich für eine Politikentschieden, in der nur noch über Zahlen und nicht mehr über Menschen gesprochen wird.

Heute streitet Europa – angesichts Jordaniens, des Libanon, ja selbst der Lage in der Türkei -über Obergrenzen und Aufnahmekapazitäten. Das ist eine Karikatur eines politischen Europas, das selbst so viele Kriege angezettelt hat.

Schauen wir in die jüngste Vergangenheit:

Europa hat Banken gerettet und doch keine Eurokrise gelöst.

Die Eurogruppe hat Griechenland Kredite aufgezwungen und doch nichts erreicht, nur die Demokratie beschädigt.

Alle demokratischen Debatten, die Europa nicht über eine soziale und friedliche Zukunft geführt hat, hat Rassisten stark gemacht.

Rechtspopulisten geben längst den Takt vor, wenn es um Integration und Diversität geht: gegen Muslime, gegen Frauen, gegen Schwule und Lesben, gegen diverse Minderheiten, eben auch gegen Menschen in Not.

Die sinnlose Spar- und die Wettbewerbspolitik der Kommission, ihre verlogenen Handelspolitik, all das verstopft Europa seit Jahren die Adern sozialer und ökologischer Innovation.

Und das allerletzte, was ein demokratischen Europa braucht, ist die Unterstützung einer türkischen Politik durch einen nutzlosen Deal.

Inzwischen hat die EU sogar Prüfverfahren für eine Visafreiheit türkischer Bürgerinnen und Bürger außer Kraft gesetzt, damit der Deal noch Bestand hat.

Dear colleagues, dear activists,

abschließend werde ich einige Punkte anführen, die den EU-Türkei-Deal für mich zu einem Fall für den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) machen.

Die Konferenz hat vieles zur Lage von Flüchtlingen zusammen getragen. Der Handlungsdruck wächst mit jedem Tag, an dem Menschen von Schüssen oder Zäunen vom sicheren Schutz auf der Flucht und von individuellen Asylverfahren abgeschnitten werden.

Ich beziehe mich dabei auf die EU-Gipfelerklärung vom 18. März 2016, die den joint EU-Turkey-Action Plan vom November 2015 aktivierte.

  1. Die EU-Turkey statement of consilium setzt den internationalen Flüchtlingsschutz und das individuelle Recht auf Asyl außer Kraft. Allein der Begriff der irregulären Flüchtlinge raubt der Erklärung ihre menschenrechtliche Substanz. Es gibt keine irregulären Flüchtlinge. Man kann sie auch nicht per Abkommen definieren.
  2. Viele Konservative in Europa glauben, die Vereinbarung würde Schleppern die Geschäftsgrundlage entziehen. Doch ihre Geschäftsgrundlage sind die realen Flüchtlinge und nicht die konkreten Fluchtwege. Es wird neue Fluchtwege geben. Selbst die EU weiß das. Sie plant, nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals ein ähnliches Abkommen mit Libyen abzuschießen.
  3. DerTürkei wird per Abkommen zugestanden, syrischen Flüchtlingen die Einreise zu versagen und sie außerhalb ihres Territoriums in sogenannte „sicheren Zonen“ zu versorgen. Das ist völkerrechtswidrig. Die Anerkennung des türkischen Konzepts von „sicheren Zonen“, ist eine Unterstützung der türkischen Außenpolitik, die sich auch gegen kurdische Kämpferinnen und Kämpfer richten kann.
  4. Mit dem Abkommen wird die Türkei als „sicherer Drittstaat“ betrachtet, indem das individuelle Recht auf Asyl vor einer Abschiebung nicht mehr garantiert wird. Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit Vorbehalten unterzeichnet und erkennt viele Flüchtlinge im Land gar nicht als Flüchtlinge an. Die Behandlung der Türkei als „sicherer Drittstaat“ und die Verweigerung der Einzelfallprüfung ist rechtswidrig.
  5. Der Geschäftsführer von Pro Asyl in Deutschland, Günter Burkhardt, warnte vorm Ausspielen der Flüchtlinge aus Afghanistan oder dem Irak gegen die Opfer des syrischen Bürgerkriegs. Auch aus diesem Grund wären die „Abschiebungen in die Türkei … eine eklatante Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention“.
  6. In der Regierungserklärung stand, dass die „Lage der Medien in der Türkei“ erörtert wird. Dass sie kritisch ist, stand nicht in der Erklärung. Doch die reale Lage rechtfertigt keinen Behandlung der Türkei wie ein„Sicherer Drittstaat“.
  7. Das Regierungserklärung zementierte nur die EU-Abschottungspolitik, die mit der Agentur FRONTEX und mit EUROSUR verknüpft sind. Das Ergebnis ist eine Bekämpfung von Flüchtlingen statt die Bekämpfung der Fluchtursachen.

Das können wir nicht so stehen lassen.

Jeden Tag verlangen 27 Regierungen von Griechenland, die Türkei wie einen sicheren Drittstaat zu behandeln. 27 Staatsoberhäupter schauen weg, wenn Menschen in Idomeni vor der geschlossenen Balkanroute mit Gummigeschossen getroffen wurden.

Viele Griechinnen und Griechen, AktivistInnen aus ganz Europa helfen den Flüchtlingen, berichten von den Hotspots, die Gefängnissen gleichen, von den Deportationen.

Trotz der Hilfe vor Ort hatte der EuGH die Lebenslage von Flüchtlingen in Griechenland zum Teil als Verstoß gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention bewertet.

Die Kommission und Rat müssen dieses Politikversagen beenden, statt Europa die Geschichte, die Seele und die Zukunft zu rauben.

Europa muss endlich Verantwortung für die globale Flüchtlingssituation übernehmen.

Das EU-Türkei -Abkommen ist keine Lösung, sondern Teil des Problems.

Es verschärft den Syrienkonflikt, zerstört Hoffnungen von Kurden und der politischen Opposition auf ein friedliches Leben und Mitbestimmung in einer Türkei, die sich Europa annähern wollte.