Merkel gießt weiter Öl ins Feuer

Foto: Martina Michels | European Union 2016 - Quelle: EP.

Kurdenkonflikt in Türkei: „Merkel gießt weiter Öl ins Feuer“

Von:  Nicole Sagener |  EurActiv.de

Europa muss dringend mehr Druck auf Ankara ausüben und den EU-Türkei-Deal aufkündigen. Dass die EU die Festnahme kurdischer Bürgermeister in Diyarbakır lediglich „besorgt“ hinnimmt, zeige den besorgniserregenden Zustand der Gemeinschaft, meint die Europaabgeordnete Martina Michels im Interview mit EurActiv.de.

Martina Michels ist eine deutsche Politikerin der LINKEN und deren regionalpolitische Sprecherin im Europaparlament. Sie ist unter anderem Mitglied der Delegation EU-Türkei.

EurActiv.de: Nach der Festnahme der kurdischen Bürgermeister Gültan Kisanak und Firat Anli in Diyarbakır gewährt die türkische Staatsanwaltschaft beiden im Rahmen des Ausnahmezustands fünf Tage keinen Rechtsbeistand. Ist Kontakt möglich?

Martina Michels: Nach meinem Wissen gibt es momentan keine Möglichkeit, Kisanak und Anli zu besuchen oder Informationen über ihre Situation zu erhalten. Trotz heftiger Proteste herrscht völlige Kontaktsperre. Dabei habe ich bei meinem letzten Besuch in der Türkei Gültan Kisanak als eine enorm sachliche und engagierte Politikerin kennengelernt, die immer betont, wie wichtig eine friedliche Aussöhnung ist. In Ankara musste sie vor dem Untersuchungsausschuss wegen des Vorwurfs aussagen, zur Gülen-Bewegung Kontakt zu haben und PKK-Mitglied zu sein. Sie sagte damals, wäre der Militärputsch gelungen, würde sie heute nicht mehr leben. Das macht deutlich, dass sie der Gülen-Bewegung fern ist.

Die Türkei ist Mitglied des Europarats. Doch neben besorgten Äußerungen von Federica Mogherini und Johannes Hahn hält sich die EU zurück …

Der Europäische Rat hat als  eines der wenigen Gremien neben der EU-Kommission die Möglichkeit, Druck auszuüben. Immerhin regt sich langsam etwas. Bei der nächsten Rats-Sitzung werden die aktuellen Geschehnisse auf der Tagesordnung stehen. Die Ratsmitglieder wollen eine Resolution verabschieden und eventuell auch gegen Ankara vor Gericht gehen.

Sie fordern die Bundesregierung auf, „ihre Premiumpartnerschaft“ mit Recep Tayyip Erdogan zu beenden, also womöglich den EU-Türkei-Deal aufzukündigen. Was würde mit den betroffenen Flüchtlingen geschehen? Politisch bestehen weiter die Gräben zwischen den Staaten, praktisch sind die Umsiedlungen nie in Gang gekommen.

Solange man mit Recep Tayyip Erdogan verhandelt, weil er uns, harsch gesagt, die Flüchtlinge vom Hals hält, kann kein Druck ausgeübt werden. Solange Angela Merkel weiter nach Ankara reist und das imperiale Bestreben eines Diktators hinnimmt, wird Erdogan weiter seinen Kurs fahren. Wenn die Türkei ein Schlüsselpartner der EU sein soll, wie es Merkel sagt, darf sie die Partnerschaft nicht als Einbahnstraße verstehen. Wir machen uns dann mitschuldig an dem, was in der Türkei passiert.

Dennoch kommt sie nicht genug voran. Was sollte Merkel denn anders machen?

Es würden auch bei der Aufkündigung des EU-Türkei-Deals nicht plötzlich Millionen von Flüchtlingen nach Deutschland kommen. Dass Deutschland inzwischen weniger Flüchtlinge erreichen, hat weniger mit dem Türkei-Abkommen zu tun. Der Grund ist vielmehr die schleichende Aushebelung von Schengen und die Abschottung der Staaten durch Schutzzäune und Grenzkontrollen. Ich gebe Angela Merkel recht: Die Flüchtlingsfrage ist nur europäisch lösbar.  Aber ich vermisse ihre aktive Rolle. Sie hat die Verantwortung, sich als wirkliche Europäerin zu beweisen und mit dem Rat und den europäischen Staats- und Regierungschefs in Klausur zu gehen. Stattdessen gießt sie – wie am Fall Jan Böhmermann und der Armenien-Resolution ersichtlich – weiter Öl ins Feuer.

Und abgesehen von der Bundesregierung?

Der Kniefall vor Viktor Orbán und anderen zeigt den besorgniserregenden Zustand der EU. Orbán ist Mitglied der europäischen Konservativen, aber ich sehe in den Parteigremien keine Bestrebungen, in Dialog zu treten. Es gibt auch keine Gipfel der Staaten, die eine gesamteuropäische Lösung anstreben und Druck auf den Rat ausüben könnten.

In Diyarbakir und anderen Städten im Südosten und Osten der Türkei ist zurzeit der Zugang zum Internet gesperrt. Meinungs- und Pressefreiheit erodieren. Ihre Fraktion hat zur Situation türkischer Journalisten eine eigene Resolution vorgelegt.

Alle Fraktionen im EU-Parlament haben bei der gestrigen Parlamentssitzung gleichermaßen betont, dass die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit nicht hinnehmbar ist und haben den EU-Rat und die Hohe Vertreterin aufgefordert, diese Einschränkungen der Rechte aktiv zu ächten. Im Grunde sind die Verhandlungen um die Visafreiheit für türkische Bürger das einzige Druckmittel für das Parlament. Eine sofortige Freilassung der festgenommenen Politiker ist aber unserer Meinung nach Grundvoraussetzung für weitere Verhandlungen über die Visafreiheit.

Der mehrheitlich kurdische Südosten der Türkei kommt seit dem Waffenstillstand zwischen PKK und Armee im Juli 2015 nicht zur Ruhe. Seither wurden türkischen Angaben zufolge mehr als 600 Mitglieder der Sicherheitskräfte und mehr als 7000 PKK-Kämpfer getötet. Was müsste für einen echten Waffenstillstand geschehen?

Ich glaube nicht, dass es Ziel von Erdogan ist, einen Waffenstillstand mit der PKK zu erreichen. Die PKK rief ihn zuerst aus. Aber nach den Anschlägen in Ankara mit über hundert Toten im Oktober letzten Jahres, unter anderem auf eine von der pro-kurdischen Partei HDP mitorganisierte Friedensdemonstration, war die Situation verheerend. Die Armee provozierte eindeutig. Bei der Trauerfeier eines getöteten Kandidaten der HDP flogen die türkischen Sicherheitskräfte im Tiefflug über die Menge aus tausenden Bürgern Diyarbakırs.

Die Frage ist: Will Erdogan überhaupt den Waffenstillstand? Die Bürgermeisterin etwa soll ja durch AKP-Politiker abgelöst werden. Bei dieser Gewaltspirale ist der internationale Druck der einzige Hebel, um zu einem normalen Zustands für Verhandlungen zurückzukehren. Dass man immer wieder an demselben Punkt ist, an dem nur verurteilt wird, aber keine Konsequenzen folgen, macht wütend.