Türkei: Wie lange will die EU noch wegschauen?

Oktober 2015: Zum Gespräch bei der Oberbürgermeisterin von Diyarbakir, Martina Michels und Marie-Christine Vergiat | Foto: Konstanze Kriese

Die Oberbürgermeisterin von Diyarbakir, Gültan Kışanak, und Co-Bürgermeister Firat Anli wurden gestern verhaftet.

Die Oberbürgermeisterin Gültan Kışanak und ihre Co-Bürgermeister Firat Anli wurden gestern verhaftet. Martina Michels, stellvertretendes Mitglied in der parlamentarischen Delegation EU-Türkei, kommentiert dazu:

„Es ist genau ein Jahr her, zwei Tage nach den Anschlägen in Ankara, als ich mit der kurdischen Politikerin Kışanak zur Situation in der Türkei und insbesondere im Südosten sprechen konnte. Seit Tagen war die Innenstadt Sur damals schon von türkischen Sicherheitskräften abgesperrt. Fenster wurden geschlossen, damit das Tränengas nicht die Gespräche beendete. Eine besonnene Frau, deren Hoffnung nach dem Wahlsieg am 7. Juni noch nicht gebrochen war, schaute auf die nächsten Wahlen im November, auf eine Chance zur Rückkehr einer friedlichen Lösung in den kurdischen Regionen in der Türkei. Anschließend gingen wir gemeinsam zur Trauerfeier von Abdullah Erol, einem Kandidaten der HDP, der den Anschlägen in Ankara zum Opfer fiel. Die türkischen Sicherheitskräfte flogen damals provokant im Tiefflug über die Trauerfeier, auf der tausende Bürgerinnen und Bürger Diyarbakırs waren. Es war nur der Anfang eines Krieges gegen die eigene Bevölkerung.“

Martina Michels weiter:

„Am heutigen Abend wird sich das Europaparlament erneut zur Situation türkischer Journalistinnen und Journalisten verständigen. Unsere Fraktion hat dazu eine eigene Resolution vorgelegt. Repression und Verfolgung trifft nicht erst seit dem gescheiterten Putsch, den kurdische Politikerinnen und Politiker genauso scharf verurteilten, wie Anhänger der AKP oder der CHP, vor allem auch kurdische und türkische RepräsentantInnen der Opposition. AkademikerInnen und letztlich immer wieder diejenigen, denen eine Berichterstattung über ein Klima der Angst und Verfolgung verwehrt werden soll, sind Opfer von Verfolgung, oft ohne Kontakt zu Familien und Anwälten.

Zu allem schweigt die EU und setzt ungerührt ihren Dialog mit türkischen Repräsentanten der Regierung, mit ihrem Premiumpartner fort, wenn es um die Absicherung der eigenen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen geht. Merkel spielt darin eine üble Rolle und übersieht seit langem, dass die Destabilisierung der türkischen Gesellschaft schon lange in Deutschland angekommen ist. Das regionale Großmachtstreben Erdoğans wird nicht einmal infrage gestellt, wenn Bundestagsabgeordneten der Besuch bei Bundeswehrsoldaten in der Türkei erneut verwehrt wird.

Die Folgen einer tief gespaltenen und zerrissenen türkische Gesellschaft sind nicht absehbar. Fakt ist allerdings schon heute, dass vor allem auch Flüchtlinge, die ohne geregelte Zugänge zu sozialen und wirtschaftlichen Chancen in der Türkei leben, die Leidtragenden sind, darunter Kinder ohne Ausbildung, die u.a. Klamotten für unsere bunte Welt nähen, um zu überleben.“

Abschließend betont Martina Michels: „Wir fordern deshalb die sofortige Freilassung von Gültan Kışanak und Firat Anli, sowie die Aufkündigung des EU-Türkei-Deals zugunsten einer Migrationspolitik, die Abschottung beendet und die internationale Herausforderung der Befriedung von Konfliktregionen durch gerechte Handels- und nachhaltige Entwicklungspolitik endlich ernst nimmt. Wir gehen davon aus, dass der Europarat bei den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei tätig wird und wir lehnen es ab, dass ohne Änderung der Terrorgesetzgebung in der Türkei einer Visafreiheit zugestimmt wird. Wir halten eine dialogbereite Politik mit der Türkei für notwendig, eine, die eine Rückkehr zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage ganz oben auf die Agenda setzt.“