Martinas Woche KW 23 – 2015

Das Studienmaterial für die Wahlbeobachtung Foto: KONSTANZE KRIESE

Studientage in Athen – Wahlen in der Türkei mit großartigem Wahlerfolg für die HDP

Intensiv und wie eine besondere politische Auszeit, so begann diese Woche mit den Studientagen unserer Fraktion in Athen. Doch die Weiterreise nach Diyarbakir zur unabhängigen Wahlbeobachtung hat diese Woche endgültig in eine ganz besondere verwandelt. Am heutigen Sonntagabend, dem 7. Juni, deutet alles daraufhin, dass die HDP einen besonderen Wahlsieg feiern kann: Sie hat ganz offensichtlich die unsägliche 10 % Hürde bei den Türkischen Parlamentswahlen geknackt und damit insbesondere der AKP und den Träumen Erdogans von einer durch und durch präsidialen Herrschaft einen gründlichen Strich durch die Rechnung gemacht. Repression, Einschüchterung, Verfolgung, nichts hat gefruchtet. Es sieht alles so aus, als ob eine Tür zur Demokratisierung der Türkei von innen geöffnet wurde.

Studientage in Athen und Regionalpolitik in Europa

Einmal im Halbjahr reist die Fraktion zu Studientagen und normalerweise treffen sich die Abgeordneten und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Land der laufenden Ratspräsidentschaft. Doch statt Lettland als Tagungsziel anzupeilen, wurde innerhalb der Fraktion schon zu Beginn dieses Jahres entschieden, sich diesmal in Athen zu treffen. Seit dem Wahlsieg SYRIZAS liefert die Troika, verstärkt durch eine Europapolitik von Merkel und Schäuble, wie sie „deutscher“ nicht sein kann, ein störrisches, beinahe religiöses Mantra zur Erhaltung ihres Kürzungsdiktats gegenüber der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Investitionen in wirtschaftliche Stabilität. Der neuen linken Regierung Griechenlands, die seit Januar andere Lösungen vorschlägt, die am Ende nicht nur der Auflösung der Staatsschuldenkrise des eigenen Landes gelten, sondern einer erneuerten Europapolitik insgesamt, wurde seit Monaten ein erbitterter Kampf angesagt. Dabei ist die Troika durch niemanden demokratisch legitimiert. Ihre bisherigen Auflagen haben Griechenland, aber auch anderen Ländern nichts als neue Schulden beschert, die Wirtschaft weiter abgewürgt und eine schleichende humanitäre Katastrophe in Kauf genommen. Sie trifft Griechinnen und Griechen und noch erbitterter Flüchtlinge, die vor allem aus Syrien, dem Nordirak und aus Afrika kommen. Eine Politik, die ausschließlich das Wohlergehen der deutschen und französischen Banken als Licht am Horizont ausmalt, ist letztendlich eine verlogene Krisenbeibehaltungspolitik.
Bei den Studientagen in Athen kamen Wirtschaftswissenschaftlerinnen, Regierungsvertreter von Syriza zu anregenden Debatten in die Fraktion. Am zweiten Beratungstag, als es um die europäische Regionalpolitik ging, mischte sich auch Martina beherzt in die Debatte ein und forderte das Ende der sogenannten „makroökonomischen Konditionalität“ in der Förderpolitik, denn das ist ein absolut untaugliches Prinzip europäischer Förderpolitik, welches Regionen einen neoliberalen Wirtschaftskurs aufdrückt, statt deren Stärken aufzugreifen und alternatives solidarisches Wirtschaften zu ermöglichen.

Unabhängige Wahlbeobachtung in Diyarbakir

Heute wurde in der Türkei gewählt. Nach einem gefühlten Wimpernschlag nach den Studientagen brach Martina Michels auf Einladung der HDP mit zwei Mitarbeiterinnen zur unabhängigen Wahlbeobachtung nach Diyarbakir auf, einer der Hochburgen der HDP. Seit Wochen gab es große Hoffnungen, die absolut undemokratischen 10 % Hürde zu überspringen. Damit wäre die absolute Mehrheit von Erdogans AKP dahin und ein Korridor für eine neue Debatte um eine Demokratisierung der Türkei geschaffen. Der drohende Ausbau der Präsentenherrschaft wäre endlich infrage gestellt, die ernsthafte Lösung sozialer Probleme, die Garantie von Medienfreiheit, Religionsfreiheit und Frauenemanzipation könnten auch außerhalb der städtischen Zentren an Zuspruch und Unterstützung gewinnen.
Der zweimonatige Wahlkampf hatte schon Stunden vor der Auszählung tiefe Spuren der alltäglichen Repression gegen Journalistinnen und Journalisten, gegen Andersdenkende hinterlassen. Am letzten Freitag erschütterte ein Bombenattentat die Abschlussveranstaltung der HDP in Diyarbakir. 3 Tote wurden am Tag darauf beerdigt und betrauert und über einhundert schwer Verletzte versorgt. Noch immer schweben mehrere Menschen in Lebensgefahr.

Unter solchen Umständen stand die selbstorganisierte, unabhängige Wahlbeobachtung, die zuvor auch offiziell angemeldet wurde, aber nicht genehmigt wurde, unter völlig neuen Vorzeichen. Sie hatte insofern schon allein eine große Bedeutung, weil sie Teil der Ernsthaftigkeit in den letzten Stunden vor der Wahl nach dem Schock vom Freitag werden konnte. Die Tatsache, dass Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter aus der Schweiz, aus Dänemark, aus Hamburg, Berlin, Brüssel und anderen Orten angereist waren, wurde an sich schon als Ausdruck von Solidarität und Unterstützung freier Wahlen wahrgenommen und umgekehrt wurden die Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter direkt in Diyarbakir Zeuge einer außergewöhnlichen Besonnenheit. Die Wählerinnen und Wähler der HDP haben sich nach dem grauenvollen Terrorakt nicht provozieren lassen. Sie haben sich gegenseitig Mut gemacht und Ruhe bewahrt. Statt Tanzen in den Lokalen am Samstag haben sie sich auf den Straßen gezeigt, mit HDP-Fahnen, dem Victoryzeichen, Hupkonzerten und in einem unermüdlichen Einsatz für die vielen Verwundeten des feigen Anschlags.
Martina Michels traf im Verlaufe des Samstag mit vielen NGOs zusammen, traf Kandidatinnen und Kandidaten der HDP, Vertreterinnen des FreeWomanCongress und der Human Rights Association. In den vielen Gesprächen tauchten neben ganz aktuellen politischen Fragen, den Einschätzungen der Lebenslagen unter anhaltender Repression und Verfolgung und der wachsenden guten Vorwahlstimmung immer wieder die Forderung auf, dafür zu sorgen, dass die Einstufung der PKK als terroristische Organisation in Mitgliedsstaaten der EU aufgehoben werden muss.

An dieser Stelle ist zu einem umfassenden Reisebericht verlinkt, denn auch die eigentlichen Erlebnisse in den und vor den Wahllokalen am Wahltag und der Sinn der selbstorganisierten Wahlbeobachtung hat sich im Finale nochmals offenbart. Die Polizei verschwand oft schon aus den Vorräumen der Wahllokale, wenn Martina ihren Abgeordnetenausweis zeigte. Die Begleitung der Wahlfreiheit, auch in dieser selbstorganisierten Form, ist auf jedenfall eine lohnende politische Aufgabe.

Die ersten Hochrechnungen am heutigen Sonntag Abend sind eine echte Überraschung, Die HDP hat ganz offensichtlich die 10 % sicher übersprungen, rund um Diyarbakir gab es Zustimmungen bis zu 80 %. Die Stimmung ist entsprechend kraftvoll, ausgelassen und alle sind auf den Straßen, laufen zu den regionalen Parteibüros und feiern einen Erdrutsch, mit dem die Allmacht der AKP gestutzt wurde. Alle wissen, jetzt geht die Arbeit erst richtig los.

(Gegen 22 Uhr sind 97 % der Stimmen ausgezählt und die HDP kommt auf 13 % mit voraussichtlich 79 Abgeordneten im Parlament, darunter auch die drei Abgeordnten, die auf dem Foto von gestern zu sehen sind.)