Martinas Woche 24 – 2024

Europa hat gewählt – Rückschau und Ausblicke

Martina Michels, Konstanze Kriese

Naja, nicht ganz Europa hat gewählt… Die Bürgerinnen und Bürger waren in den 27 Mitgliedstaaten der EU aufgefordert, das weltweit einzige supranationale Parlament, das Europaparlament, zu wählen. Allerdings ähnelt die Wahl überall einer zusätzlichen nationalen Wahl, so dass sie oft zur Abrechnung oder zum Stimmungstest gegenüber der eigenen Regierung genutzt wird. In Frankreich trat gar Macron in der Wahlnacht zurück, hoffend, dass die Präsidentschaftswahl 2027 für sein La République en Marche (LREM) mit diesem Schachzug noch nicht verloren ist. In Deutschland wurde die ständig mit sich selbst hadernde Koalition abgestraft, in Ungarn erhielt Orbán einen Dämpfer. Hingegen verwies die Schlüsselfigur der neuen europäischen Rechten mit ihrem transatlantischen Augenaufschlag, Meloni, ihre traditionellen italienischen rechtsausladenden Mitbewerber von Salvini bis dereinst Berlusconi auf die Plätze. Nun sitzt die italienische Postfaschistin der konservativen EVP im Nacken, die zwar ordentlich Stimmen hinzugewann, doch noch zaudert, mit welchen Mehrheiten sie Ursula von der Leyen erneut ins Amt bekommt. Entsprechend deutlich waren die Ansagen der europäischen Sozialdemokratie an die Europäischen Volkspartei, nicht weiter nach rechts zu blinken, wenn andere demokratische Mehrheiten im Wahlkampf nicht gänzlich verloren gingen.

Erste Fraktionssitzung mit den Co-Vorsitzenden Manon Aubry und Martin Schirdewan

Grüne und Linke sind europaweit in einer anhaltenden Defensive, auch wenn die kleine linke Fraktion im Europaparlament – The Left –  insgesamt erfreulich stabil blieb. Trotzdem ist dieses Ergebnis für eine ernsthafte und wirklich durchschlagende Weiterentwicklung des Green Deal und für die Ansätze für eines sozialen Europas, die mit der La Hulpe-Erklärung im April 2024 noch einmal im politischen Rampenlicht standen, keine rundum komfortable Ausgangssituation. Das heißt einmal mehr, die Herausforderungen für demokratische, linke Politik sind turmhoch und brauchen auf jeden Fall eine engere Vernetzung von Parlamentarier*innen, außerparlamentarischen Aktivist*innen und NGOs, Gewerkschaften, Kulturleuten und Wissenschaftler*innen.

Auf dem Wege: Carola Rakete kommt zur 1. Fraktionssitzung in Brüssel am 12. Juni 2024

Die Wahlnachlesen verschiedener Parteien und Stiftungen haben begonnen. Wer sich einlesen möchte, findet  hier allerhand Interpretationen und Kommentare:

Partei- und Landesvorsitzende der Linken zum Wahltag

Wahlnachtsbericht LINKE 11. Juni 2024

FES – Wahlanalyse Europawahlen in Deutschland 2024

Böll-Stiftung – Grüne Parteien in Europa nach der Wahl

Brüssel 2024

LINKE Wahlnachlese (I)

In der vergangenen Woche fanden das erste Delegations- und Fraktionstreffen in Brüssel statt. Ob es gut ist zu sagen „Hurra, wie leben noch“?… Klar ist! DIE LINKE aus Deutschland hat ein niederschmetterndes Ergebnis bei den Europawahlen auszuwerten, muss sich neu sortieren und aufstellen. So etwas macht niemand in wenigen Wochen und es fängt mit dem Kartenlegen an, woran es gelegen hat, dass Wählerinnen und Wähler andere Angebote interessanter fanden. In der ersten Delegationssitzung am Mittwoch haben wir auch in Brüssel mit der Wahlnachlese begonnen. Licht im Aufarbeiten ist natürlich, dass wir die Ökologin und Aktivistin Carola Rackete als neue Abgeordnete begrüßen konnten, dass Martin Schirdewan und Özlem Demirel mit ihren Kompetenzen und Erfahrungen –  von der Finanzarchitektur bis zu einer Friedensunion –  nun die neue linke Delegation in Brüssel und Straßburg stemmen. Die Sozialkompetenz, die wir mit Gerhard Trabert im Spitzenteam erweitert hatten, müssen wir in anderen Formen vertreten und zusammen mit den Fraktionskolleginnen und Kollegen europaweit ausgleichen.

1. Fraktionssitzung nach der Wahl, 12. Juni 2024

Vieles ist im Fluss und muss erst gemeinsam entschieden werden, doch eins steht fest: Unsere politischen Anliegen gelten auch nach der Wahl einer gerechten Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums – das gilt im Übrigen auch für die gesamte internationale Arbeitsteilung. Wir werden eine konkretere Politik für öko-soziale Transformation vorlegen und unser klares Votum für eine menschenrechtsbasierte Asylpolitik, die nicht gegen unterfinanzierte Kommunen und gestiegene Preise fürs Wohnen und Leben ausgespielt werden darf, untermauern. Gründe für existenzielle Krisenerfahrungen liegen nicht an der unbewältigten Migration. Im Gegenteil, Europa braucht neben einer humanen Asylpolitik auch Einwanderung auf der Basis internationaler Kooperation. Dazu müssen wir endlich nachvollziehbare politische Schritte vorlegen, dann haben wir auch mehr Chancen zu überzeugen.
Die abenteuerliche Politik der Aufrüstung und des Sparens bei der öffentlichen Daseinsvorsorge wird internationale Konflikte am Ende verschärfen und u. a. durch den Klimawandel noch mehr Fluchtgründe für viele Menschen, die jetzt schon aus Konfliktgebieten Schutz suchen, hinzufügen. All unsere politischen Überzeugungen brauchen klare Durchsetzungsstrategien und konkrete umsetzbare mittelfristige politische Projekte, die Menschen praktikabel und einleuchtend finden.

Carola Rackete in der 1. Fraktionssitzung in Brüssel, 12. Juni 2024

Wir haben jetzt die Gelegenheit und die Verpflichtung, den Dialog über umsetzbare mittelfristige politische Projekte mit kritischen Sympathisant*innen zu führen. Was uns dabei helfen wird, sind ganz sicher die Erfahrungen anderer linker Parteien und progressiver Bewegungen in Europa. Was in Deutschland im linken Lager (hier die Grünen und die Sozialdemokraten hinzugerechnet) nicht gelungen ist, sieht in anderen europäischen Ländern etwas anders aus.
Das führt dazu, dass wir eine sehr starke französische Delegation von France Insoumise in Brüssel begrüßen konnten und auch andere Parteien aus Skandinavien oder Belgien linke Politik bei den Wahlen in ihren Mitgliedstaaten erfolgreich vertreten haben.

LINKE Wahlnachlese (II):

Freitag und Samstag tagte die Fraktionsvorsitzendenkonferenz in Weimar. Eine Woche nach den Europa-und Kommunalwahlen trafen sich die Fraktionsvorsitzenden der Landtage, der Bundestagsgruppe und der deutschen Delegation im Europaparlament am 14. und 15. Juni 2024 in Weimar. Anwesend waren auch der Co-Parteivorsitzende Martin Schirdewan und die amtierende Bundesgeschäftsführerin Katina Schubert. Im Mittelpunkt stand die kritische Analyse der Wahlergebnisse vom 9. Juni 2024. Dass die Ergebnisse für die LINKE desaströs, ja sogar als existenzbedrohend zu bezeichnen sind, darin war man sich einig. Die wichtige Frage im Überlebenskampf der Partei ist die danach, wie es gelingen kann, sichtbar mit einer programmatischen, strukturellen und personellen Neuaufstellung bis zum nächsten Parteitag im Oktober 2024 zu beginnen. Erschwerend für diesen notwendigen Prozess ist die gleichzeitige Herausforderung dreier Landtagswahlen im September des Jahres. Gerade in Brandenburg, Sachsen und Thüringen steht für die LINKE viel auf dem Spiel, was deren weitere Existenz und Verankerung betrifft.

Fraktionsvorsitzendenkonferenz in Weimar, 14./15. Juni 2024

Darüber hinaus gab es Debatten zur Gesundheitspolitik auf Basis einer Studie „Wer arm ist stirbt früher“, in der der Zusammenhang zwischen Einkommensverhältnissen und Gesundheitszustand analysiert wurde. Die Zukunft des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks wurde ebenfalls unter die Lupe genommen.

Fraktionsvorsitzendenkonferenz in der Gedenkstätte in Buchenwald, 15. Juni 2024

Die Fraktionsvorsitzenden nutzen in Weimar die Gelegenheit und besuchten die Gedenkstätte des KZs in Buchenwald.

Martina Michels beim Medienpodcast von verdi

Die Europawahlen sind vorbei. Wie geht es weiter mit der Linken und mit der Europäischen Medienpolitik, mit der Regulierung von Plattformen, mit dem Medienfreiheitsakt, mit dem Datenschutz, dem Umgang mit KI? All dies und mehr fragte D. Höpfner nach und Martina antwortete und skizzierte dabei viele offenen Stellen in der Regulation von Medien, Plattformen und Technologien. Zugleich sah sie die dürftige Europäische Medienöffentlichkeit als eklatantes Problem, die Finanzierungsprobleme von öffentlich-rechtlichen Medien und von Medienfreiheitsinitiativen wie das ECPMF, die uns europaweit das Wissen liefern, wo Journalist*innen unter Druck sind, wo Unterstützung und Druck gefragt sind, Medienvielfalt und -freiheit wieder herzustellen. Hier ist der Podcast zum Nachhören.

EU-Kommission: Ausgleichszölle für chinesische E-Autos

„Die EU findet sich im Wettrennen um Subventionen zwischen den USA und China an letzter Stelle wieder – und läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Das Agieren der EU-Kommission als letzte Bastion der reinen Marktlogik bringt uns nicht weiter. Was wir wirklich brauchen, ist eine europäische Investitionsoffensive in grüne Mobilität, um Elektromobilität endlich erschwinglich zu machen.“,

kommentiert Helmut Scholz das aktuelle Vorgehen der EU-Kommission. Darüberhinaus steht gleich noch die Frage, ob E-Mobilität überhaupt nachhaltige Lösungen bietet, wenn beim Individualverkehr alles gleich und beim ÖPNV und im Bahn-Fernverkehr sowie beim Gütertransport alles beim Alten bleibt. Statt verzweifeltem Protektionismus sollte es um eine echte Verkehrswende gehen, schlussfolgert auch Scholz in der ganzen Pressemeldung.

Vorausschau (I): Sozialgipfel 27./28. Juni 2024 in Brüssel

Wir hatten eine der Großtaten der Belgischen Ratspräsidentschaft schon erwähnt. Immerhin hatte sie es durchgesetzt, dass nach diversen Sozialgipfeln die Erklärung von La Hulpe im April 2024 das Licht der Welt erblickt hat, was die Säule Sozialer Rechte nicht sofort verbindlicher macht, aber ein erneuter Weckruf war, dass nun endlich Taten folgen müssten, wie Özlem Demirel seinerzeit sofort kommentierte.
Am 20. und 21. Juni 2024 tagen dazu die Fachminister*innen der Mitgliedsstaaten in Brüssel. Und am 27./28. Juni 2024 soll aus der La Hulpe-Erklärung ein verbindlicher sozialpolitischer Vorschlag für die kommende EU-Politik werden. Dafür werden zuvor am 20. Juni 2024 der Richtlinienvorschlag der Kommission zu Europäischen Betriebsräten, Soziale Rechte in der EU, Gleichbehandlung und die soziale Dimension des Binnenmarktes auf der Tagesordnung stehen. Am 21. Juni 2024 steht die Gesundheitsunion im Mittelpunkt der Beratungen.

Vorausschau (II): Keine Entwarnung bei der Chatkontrolle

Was man der Belgischen Ratspräsidentschaft bei der Sichtbarmachung der Herausforderungen einer Europäischen Sozialpolitik hoch anrechnen muss, reißt sie an anderer Stelle in den Abgrund. Es geht um Beschlüsse auf den letzten Metern, nun doch noch unsere private Kommunikation gründlich überwachen zu können. Die Piraten im Europaparlament hatten hier immer gemeinsam mit linken und auch anderen Fraktionen immer zurecht und kompetent Alarm geschlagen.

„…der Kern des Vorhabens: Inhalte, die Menschen via Messengerdienst verschicken, sollen gescannt werden können. Ziel ist es laut EU-Kommission, die das Vorhaben initiiert hat, Darstellungen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder aufzuspüren und Ur­he­be­r:in­nen oder Personen, die die Inhalte weiterverbreiten, zu verfolgen.
Bislang scheiterte das Vorhaben, weil sich unter den Mitgliedstaaten nicht die nötige Mehrheit fand. Das könnte sich nun ändern: Bereits Ende Mai berichteten Insider:innen, dass Frankreich sein Veto aufgeben könnte. Damit würde die bisherige Sperrminorität der kritischen Mitgliedstaaten fallen.“,

kommentierte die taz gestern Abend. Damit wäre der Weg zu Trilogverhandlungen frei und dies mit einer neuen Zusammensetzung des Parlaments, das sich bisher der Chatkontrolle und damit dem Aufweichen der Verschlüsselung unserer Kommunikation verweigerte.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.