Zwischen Erweiterung und Brexit

Martina Michels über eine versäumte Debatte zur demokratischen Vertiefung der EU

neues deutschland vom 9.6.2016

Das Spektakel um den dreckigen Deal der Europäischen Union mit Ankara zu Lasten des Grundrechts auf Asyl verdeckt in der Öffentlichkeit, dass neben der Türkei auch eine ganze Reihe von Ländern des westlichen Balkans in intensiven EU-Beitrittsverhandlungen stehen. Markterweiterungs- und Privatisierungsstrategen wiederholen gern, was der konservative Europaabgeordnete David McAllister jüngst festhielt: Der Erweiterungsprozess der EU sei ein Erfolgsmodell und Reformhebel für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Linke aus den Ländern, die in Beitrittsverhandlungen stehen, unterschreiben derartige Einschätzungen. Linke aus den jüngst beigetretenden Ländern sehen solche Aussagen hingegen äußerst kritisch. Sie verweisen – wie viele andere auch – auf Ungarn und Polen, auf die Einschränkung von Medienfreiheit und der Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts.

Die wiedererwachte Diskussion um die Erweiterungspolitik wird kaum einfacher, schaut man in Gänze auf die osteuropäischen Transformationsprozesse und so etwa auf die Folgen der gravierenden Reduktion der gesetzlichen Rente in Polen, auf radikale Privatisierungsschübe, den entsicherten Arbeitsmarkt, auf Abwanderung, soziale Verwerfung. Ich habe – auch vor diesem Hintergrund – eine Einbindung mittel- und osteuropäischer Länder in die EU immer begrüßt, um Kohäsionsprozesse voranzubringen und einen wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich nicht aus den Augen zu verlieren. Doch das geht nicht, ohne die Frage nach der Vertiefung der EU zu stellen. Die liegt spätestens mit dem Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU in zwei Wochen erneut auf dem Tisch.

Wir verdanken dem ehemaligen Erweiterungskommissar Günter Verheugen die nachdenkliche Feststellung: »Würde sich die EU bei uns um Beitritt bewerben, müssten wir sagen: demokratisch ungenügend.« Dies formulierte er inmitten der Osterweiterung 2005. Seit dem Scheitern der EU-Verfassung ist eine Leitbilddebatte der europäischen Integration bis zum heutigen Tage wie eingefroren. Auch die Linke in Europa kann kaum sagen, ob die Integration in Richtung einer internationalen Organisation, eines Staatenverbundes oder Bundesstaates gehen soll. Einzig Teil einer Freihandelszone soll die EU nicht werden. Wie Weltoffenheit und lokale wie globale Solidarität durchsetzbar werden, dafür fehlen jedoch konkrete politische Konzepte und Durchsetzungsstrategien.

Die deutsche Linke hat gemeinsam mit unseren Partnerparteien in der GUE/NGL-Fraktion stets grundlegend unterstützt, dass der Artikel 49 des EU-Vertrages jedem europäischen Staat, der demokratische Werte achtet und fördert, den Antrag auf Beitritt ermöglicht. Zugleich darf unsere Kritik nicht verstummen, dass jeder Beitritt an die herrschende Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik gebunden wird. Eine Vernachlässigung der sozialen Auswirkungen der Transformationsprozesse und die Verknüpfung des EU-Beitritts mit dem NATO-Beitritt sind absolut inakzeptabel.

Es steht außer Frage, dass die Entwicklung zum Rechtsstaat, die Herausbildung demokratischer Institutionen, sinnvolle Dezentralisierung, Korruptionsbekämpfung und die Garantie bürgerlicher Freiheiten durch Beitrittsverhandlungen positiv in den Kandidatenländern wirken. In den rasanten Erweiterungsprozessen ist allerdings weder Augenmerk auf die Entwicklung einer zivilgesellschaftlichen Demokratie gelegt worden noch kann die EU mit ihrem seit der Finanzkrise verfolgtem Spar- und Privatisierungskurs bei gleichzeitiger weiterer Entdemokratisierung ihrer Entscheidungsprozesse das Vertrauen der BürgerInnen gewinnen.

Was uns länger schon in West- und Südeuropa mit den wachsenden Erfolgen der Le Pens, für UKIP oder Lega Nord begegnet und sich nachholend in Deutschland mit der AfD ausbreitet, überrascht uns in Ungarn und Polen mit den Durchgriffen Orbans und der PiS-Regierung. Doch das Erstarken nationalistischer und xenophober Kräfte ist nicht zuerst Folge einer unbewältigten Erweiterung, sondern immer auch Ergebnis einer verfehlten EU-Politik, einer nicht stattfindenden Debatte über die Vertiefung jenseits von Abschottung und neoliberaler Glaubenssätze. Die Unfähigkeit eine gemeinsame humane Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen, geht nicht – wie gern verkürzt wird – auf die Konten osteuropäischer Regierungen. Sie zeigt sich genauso in Frankreich, Österreich oder Dänemark. Auch unsere Kritiken am EU-Türkei-Deal sind nur vor diesem Hintergrund nachhaltig.