Europaparlament kritisiert Verletzung von Grundrechten und Demokratie-Standards in Ungarn

Forderung nach Verfahren zur Aussetzung von Mitgliedsrechten gegenüber Ungarn blockiert

Am selben Tag, an dem der Sacharow-Preis für geistige Freiheit – manchmal auch als EU-Menschenrechtspreis bezeichnet – vom Europäischen Parlament an den Blogger Raif Badawi verliehen wurde, konnte sich das EP nur in unvollständiger Konsequenz zur Positionierung zu Grundrechtsbeschränkungen in einem EU-Mitgliedstaat durchringen. Die Abgeordneten der Linksfraktion GUE/NGL begrüßten die Annahme einer entsprechenden Entschließung, zeigten sich jedoch enttäuscht darüber, dass die Forderung nach konkreten Schritten gegenüber Ungarn von den konservativen Kräften blockiert werden konnten.

Seit im Jahr 2010 die Fidesz-Patei in Ungarn eine Regierungsmehrheit zusammenstellen konnte, haben internationale und zivilgesellschaftliche Organisationen vor Ort immer öfter immer stärkere Besorgnis über die politischen Entwicklungen vor Ort geäußert. Das betrifft das Funktionieren der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respektierung und Schutz von Menschenrechten und sozialen Rechten, die Gewaltenteilung, Fragen von Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung.

Das Europäische Parlament hat bereits am 10. März 2011 hinsichtlich der Mediengesetzgebung und am 16. Februar 2012 hinsichtlich politischer Entwicklung in Ungarn eine Erklärung abgegeben. Im Juli 2013 lag dem Plenum des EP ein Bericht „über die Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn“ (Tavares-Bericht) vor. Dort wurde betont, dass die umfassenden und systematischen Verfassungs„reformen“ der ungarischen Regierung die Einhaltung der Grundwerte, auf denen die Europäische Union aufbaut, gefährden.

Nachdem Viktor Orban angekündigt hatte, die Todesstrafe wieder einzuführen und eine öffentliche Befragung zu initiieren, in der Immigration und Terrorismus in einem Atemzug genannt werden, hat das Europäische Parlament am 10. Juni 2015 in einer weiteren Entschließung diese Entwicklungen in Ungarn verurteilt und die Kommission dringend aufgefordert, „die erste Stufe des EU-Rahmenwerks in Kraft zu setzen, um die Rechtstaatlichkeit zu stärken“. Es sollte also unverzüglich einen Monitoring-Prozess zur Lage der Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Grundrechte in Ungarn eingeleitet werden, um einschätzen zu können, ob eine systematische Verletzung der Werte der EU gemäß Art. 2 VEU vorliegt und entsprechend ein Verfahren zur möglichen Aussetzung mitgliedstaatlicher Rechte nach Art. 7 VAEU gerechtfertigt und notwendig ist.

In der Zwischenzeit hat das ungarische Parlament eine Reihe von Gesetzesänderungen im Bereich der Asyl-, Straf-, Grenzschutz-, Polizei- und Verteidigungsschutzgesetzgebung verabschiedet, die mit internationalem und EU-Recht unvereinbar erscheinen, einschließlich der Charta der Grundrechte. Die EU-Kommission hat von Anfang an nur sehr zögerlich auf die Lage in Ungarn beziehungsweise die Reaktionen aus der Zivilgesellschaft und die Entschließungen des EP reagiert.

Die in dieser Woche angenommene Entschließung zur Lage in Ungarn wurde von vier Fraktionen eingebracht und gegen großen Widerstand aus den konservativen Fraktionen. In einer äußerst knappen Abstimmung von 327 zu 293 Stimmen, bekennt sich eine Mehrheit des Europaparlaments zu deutlicher Kritik an den Verschlechterungen in Bezug auf Rechtstaatlichkeit und Grundrechte und insbesondere an den jüngsten Entwicklungen im Bereich Asyl und Grenzkontrollen. Ebenso wird der Mangel an Reaktionen vonseiten der Kommission und des Rates bedauert. Allerdings fand sich im Detail keine Mehrheit dafür, ein Verfahren nach Art. 7 VEU vom Rat zu fordern, nach dem die Suspendierung einiger oder sogar aller Mitgliedsrechte eines EU-Mitgliedsstaates möglich wäre, wenn dieser systematisch und schwerwiegend die EU-Grundrechte verletzt.

Angesichts besorgniserregender Tendenzen in weiteren Mitgliedstaaten, beispielsweise in Polen, doch gerade auch einiger Äußerungen aus Deutschland im Zusammenhang mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen, scheint die in Bezug auf praktische Konsequenzen eingehaltene Schockstarre gegenüber Menschen- und Bürgerrechtseinschränkungen umso bedenklicher.