Die Linke und der Deal von Brüssel

Was ist die Substanz des Brüssler Gipfel-Ergebnisses? Und ist er letztlich für die breite linke Bewegung in Griechenland tragbar? Und für die Linke hierzulande?

Die griechische Linksregierung hat sich nach langen, harten Verhandlungen mit den Gläubigern (EU, Euro-Zone, EZB und IMF) auf ein dreijähriges Hilfsprogramm geeinigt. Sie muss im Gegenzug zur Vermeidung der gesamtstaatlichen Insolvenz harte politische und ökonomische Auflagen akzeptieren.

Was ist die Substanz des politischen Deals von Brüssel? Und ist er letztlich für die breite linke Bewegung in Griechenland tragbar?

Die Bundeskanzlerin hat Recht mit der Einschätzung der positiven Substanz für die Regierung Tsipras: »Zunächst einmal in dem hohen Finanzbedarf.« In der Tat: Bei Abschluss der Verhandlungen erhält Athen faktisch eine Umschuldung von ca. 50 Mrd. Euro für die nächsten drei Jahre. Die griechischen Banken, faktisch zurzeit nicht nur insolvent, sondern pleite, werden rekapitalisiert (10-25 Mrd. Euro).

Damit werden zugleich die Ersparnisse und Rücklagen der griechischen Bevölkerung vor der Vernichtung gerettet. Außerdem wird es eine realisierbare Erschließung der 35 Mrd. Euro Investitionsmittel aus dem EU-Kohäsionsfonds und ca. 12,5 Mrd. Euro aus dem Privatisierungsfonds für direkte Investitionen geben. Griechenland kann seinen gesellschaftlichen Reproduktionsprozess in kapitalistischer Form weiterführen und hat auch eine Chance, auf einen wirtschaftlichen Erholungs- und Wachstumskurs zurückzufinden.

Erschwert wird dieser Rekonstruktionsprozess der gesellschaftlichen Ökonomie durch weitere Kürzungen im Staats- und Sozialhaushalt, also weitere Verringerung von Kaufkraft. Laut EU-Ratspräsident Tusk soll die griechische Ökonomie mit den Hilfen im Umfang von 82 bis 86 Mrd. Euro über drei Jahre wieder auf die Beine kommen.

Ministerpräsident Alexis Tsipras hat offenkundig keine Illusionen über das Resultat: »Wir haben vermieden, dass wir finanziell erdrosselt werden und unser Banksystem kollabiert.« Und es sei gelungen, eine Umstrukturierung der Schulden zu erreichen. Die wichtigsten Erfolge in dem »harten Abkommen« sind laut Tsipras:

»Wir haben die Botschaft der Glaubwürdigkeit in die Welt gesandt.«
Die übernommenen Lasten sind sozial und fair gerecht verteilt. »Dieses Mal müssen nicht nur wieder diejenigen bezahlen, die in den letzten Jahren alle Lasten schultern mussten. Dieses Mal müssen diejenigen Lasten übernehmen, die bislang es geschafft hatten, zu entkommen, weil die früheren Regierungen sie beschützten.«
»Ich bin überzeugt, dass mit der Einigung über das Wachstumspaket über 35 Mrd. und die gesicherte Finanzierung über drei Jahre die Befürchtung der Investoren eines drohenden Grexits überwunden ist.«
»Wir konnten abwenden, dass das Staatsvermögen ins Ausland überführt wird.«
»Wir konnten abwenden, dass um uns eine finanzwirtschaftliche Schlinge gezogen wird. Wir konnten ein ins letzte Detail ausgearbeitetes, zum Teil bereits in der Umsetzung befindliches Programm abwenden. Die mittelfristige Umstrukturierung der Schulden wurde erreicht.« (Phoenix am 13.7.2015)

Die Verhandlungen in Brüssel wurden sicher nicht auf gleicher Augenhöhe geführt. Jeder Abbruch wäre mit Bankschließungen und einem Zusammenbruch der griechischen Ökonomie verknüpft gewesen. Die Erzwingung von politischen Vorleistungen (umgehende Parlamentsbeschlüsse in Sachen Arbeitsmarkt, Renten, Steuern etc.) läuft auf eine weitere Beschädigung der parlamentarischen Willensbildung und der nationalen Souveränität hinaus.

Die Rückkehr zur Praxis der »Institutionen« (Troika-Kontrolle in den staatlichen Apparaten) sind eine erhebliche Einschränkung der politischen Eigenständigkeit. Die griechische Regierung soll auch einen Teil ihrer Haushaltsautonomie abgeben – die Staatsausgaben werden gemäß Einigung automatisch gekürzt, falls das Sparziel nicht erreicht wird.

Es trifft zu, dass Griechenland in fiskalischer Sicht zu einem »Protektorat« der Gläubigerländer wird. Deren »Entgegenkommen« ist eine in Aussicht gestellte weitere Verlängerung der Laufzeit der griechischen Schulden. Doch das wird erst diskutiert, nachdem die Reformen umgesetzt worden sind.

Die Auflagen für Griechenland sind nun noch härter als die Bedingungen der Gläubiger, die die Griechen beim Referendum vor einer Woche mit deutlicher Mehrheit abgelehnt hatten. Die griechische Regierung muss nun im Zeitraffer Reformen umsetzen und ist in ihrer politischen Glaubwürdigkeit beschädigt. Möglicherweise zerfallen die politischen Kräfteverhältnisse und es werden Neuwahlen fällig.

Es ist ausgeschlossen, dass die derzeit regierende Koalition aus Syriza und den rechtspopulistischen »Unabhängigen Griechen«, die 162 Mandate im Parlament hat, bei Abstimmungen über »Reformen« die nötigen 151 Ja-Stimmen aus eigener Kraft aufbringen kann. Aus diesem Grund erwarten die meisten Beobachter in Athen, dass schon bald eine anders zusammengesetzte, erweiterte Koalition das Land regiert.

Einen anderen Punkt macht der Deal von Brüssel aber auch deutlich: Die europäische Währungsunion steckt weiterhin in einer Strukturkrise. Es gibt keinen Ansatz, die Wirtschaftskrisen in ihren Mitgliedsländern effektiv zu bekämpfen. Weiterhin gilt das Rezept, schädliche Sparrunden zu verschreiben, die zu mehr Arbeitslosigkeit und Verlusten bei der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit führen.

Sinkt aber die Wirtschaftsleistung weiter, wird es immer schwieriger, die Schulden – ob nun mit längerer Laufzeit oder nicht – zu bedienen. Die Euro-Zone (und mit ihr die ganze EU) wird von einer Krisenpolitik absorbiert, die, statt dauerhaft zu stabilisieren, Ressentiments gegen einzelne ihrer Vertreter und aggressive nationalistische Reflexe schürt.

Das ständige Durchwursteln lähmt ganz Europa. In der Eurozone hat der anhaltende Krisenmodus starke Verwerfungen angerichtet. Mit den neoliberal ausgerichteten »Strukturreformen« in Ländern wie Griechenland, Irland, Portugal und Spanien sind die Schulden nur weiter explodiert.

Das Beispiel Portugal: 2011 wurde unter sozialistischer Regierung mit der »Troika« ein Notkredit von 78 Mrd. Euro ausgehandelt. Das »Anpassungsprogramm« hatte Folgen: Nach drei Jahren Rezession hätte das BIP 2013 wieder wachsen sollen. Es stieg aber erst 2014 wieder um 0,9%. Insgesamt ist die Wirtschaftsleistung in der Eurozone noch immer nicht auf dem Vorkrisenniveau von 2007. Der Defizitabbau geht weiter und für 2019 soll ein Haushaltsüberschuss von 0,2% des BIP erreicht werden.

Gleichzeitig weist das Land neben einer Defizitquote einen öffentlichen Schuldenstand von 129 % aus. Eine überzeugende wirtschaftliche Rekonstruktion zeichnet sich nicht ab und folglich gibt es große Zweifel an der Schuldentragfähigkeit. Insgesamt sind die neoliberalen Strukturreformen für die Mitgliedsländer der Eurozone keine Erfolgsgeschichte. Die Zahl der EU-Mitgliedsstaaten, die den Fiskalpakt nicht einhalten, ist nach wie vor hoch.

Es gibt keine Garantie oder gar einen Automatismus: Aber die griechische Ökonomie kann sich in den nächsten drei Jahren in eine Wachstumszone zurückkämpfen. Auf mittlere Perspektive müsste die kurzfristige Erneuerung durch Strukturpolitik stabilisiert werden. Es ist ein erster, wichtiger Schritt, die wirtschaftliche Abwärtsspirale Griechenlands aufzuhalten. Ungelöst bleiben Fragen, wie der griechische Staat zahlungsfähig werden, wie das Bankensystem neu strukturiert und wie ein Wachstumsimpuls längerfristig und nachhaltig werden kann.

Erholt sich die griechische Wirtschaft nicht und stocken somit die Steuereinnahmen, könnte sich das Land in einigen Jahren wieder vor einer Staatspleite befinden. Dann wäre der Schuldenberg aber wohl noch höher, die Fronten verhärteter und für alle Beteiligten klarer, dass man sich 2015 nur Zeit gekauft hat.

Gleichwohl: Die harsche Verweigerung, diesen Kompromiss zu unterstützen, die von Teilen der Linkspartei propagiert und mit superschlauen Ratschlägen garniert wird, ist aus unserer Sicht unbegründet und politisch unakzeptabel. Der Fraktionsvorstand der Partei DIE LINKE im deutschen Bundestag meint, der griechischen Regierung abraten zu müssen, »die Brüsseler Einigung zu weiteren Hilfen mitzutragen«. »Wer beim Referendum für ein ›Nein‹ war, um weiteren Kürzungsdiktaten eine Absage zu erteilen, kann jetzt nicht ›Ja‹ sagen«, heißt es in einer Bewertung durch die beiden designierten Fraktionschefs Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht.

Diese Rhetorik lässt die gesellschaftlichen und sozialen Nöte in Griechenland völlig außer Acht. »Mit Angela Merkel, Wolfgang Schäuble und Sigmar Gabriel als Berlin-Troika hat Europa keine Zukunft. Erneut sollen Steuermilliarden für die Fortsetzung einer absurden und gescheiterten Politik verschleudert werden.« Und wieder wird mit den angeblichen Interessen des »deutschen Steuerzahlers« gewunken: »Erpressung der Bundesregierung erfolgreich: Griechenland bekommt neue Kürzungen diktiert und der deutsche Steuerzahler neue Risiken in Milliardenhöhe.«

Für die Milliardenhilfen hafte »jeder sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland«. Die neuen »Hilfspakete« dienten »wieder nur der Zahlung alter Schulden mit neuen Schulden und der Stützung der griechischen Banken«, der wirtschaftliche Niedergang und die soziale Misere in Griechenland würden sich unter den Kürzungsprogrammen absehbar weiter verschärfen. »Das Ganze ist nichts als ein neuer Akt verantwortungsloser Konkursverschleppung.«

Damit liegt die zukünftige Fraktionsspitze auf der Linie des konservativen Steuerzahlerbundes und anderer neoliberaler Organisationen, die kritisieren, die Brüsseler Einigung stelle »eine Gefahr für die Bürger in Deutschland« dar. »Damit werden den Steuerzahlern weitere Haftungsrisiken aufgebürdet, die unvertretbar sind.«

Das Szenario eines Staatskonkurses in Griechenland müsste schon genauer beleuchtet werden, bevor man die Chancen einer alternativen Rekonstruktion für völlig unmöglich erklärt, von Konkursverschleppung spricht und damit auch noch nationalistische Ressentiments befördert.

Von Joachim Bischoff und Björn Radke, Neues Deutschland 15.07.2015